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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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unversehens an unser eigenes Ende.«

97
    Während Ginny unter den starren Blicken der Riesen im inneren Ring weiterging, spürte sie, wie etwas aus ihr entwich. Ihre Schutzblase schien dünner zu werden, und das Atmen fiel ihr von Minute zu Minute schwerer. Der Stein hatte aufgehört, sie in eine bestimmte Richtung zu zerren; stattdessen zog er sie hierhin und dorthin, ohne erkennbares Muster, und ließ in seiner Kraft merklich nach. Schließlich blieb sie, so starr wie eine der Statuen, in Sichtweite des Hohlwegs stehen, durch den sie das Tal betreten hatte.
    Aus dem Widerstreben des Steins, sich auf eine bestimmte Richtung festzulegen, konnte sie nur einen Schluss ziehen: Entweder hatte sie sich zu weit oder aber zu schnell vorgewagt, bis zu einem Ort, an dem ein einzelner Stein sie nicht mehr zu beschützen vermochte.
    Warum hatte er sie dann überhaupt bis hierher geführt?
    Als sie sich die Augen rieb, bemerkte sie, dass ringsum und über ihrem Kopf Rußflocken schwebten, umso deutlicher zu
erkennen, da sie sich vor einem schnell wachsenden Eisberg abzeichneten, der wie auf den Kopf gestellt, über dem Tal hing. Während ihr der Nacken steif wurde, beobachtete sie, wie vom Talbecken lautlos saphirblaue Eisspitzen aufstiegen und sich als Ring von Säulen ums Tal legten, als wollten sie den Jadebau in der Mitte, die Trügerische Stadt, umzingeln. Der an den Gebirgsrändern wabernde Nebel verdichtete sich zu Wolken, die Ginny an die Wolken zu Hause erinnerten – falls es noch irgendwo ein Zuhause gab. Falls sie überhaupt jemals irgendwo aufgewachsen war und gelebt hatte; falls sie überhaupt irgendeine ihrer Erinnerungen für wahr halten durfte …
    Hier draußen besaßen die Eisspitzen, die Säulen, eine ätherische Schönheit, die eher zur Erde als zum Chaos zu passen schienen. Ihre Umgebung erinnerte an den Fuß eines Eisgletschers, vielleicht auch an eine von oben nach unten gekehrte Alpenlandschaft. Wie seltsam, dass irgendetwas derart Unmögliches inmitten von Dingen, die lediglich sehr unwahrscheinlich wirkten, so viel echter als alles ringsum aussehen konnte.
    Inzwischen war sie so fix und fertig, dass sie sich niederlegte, eingehüllt von der zusammengeschrumpften Schutzblase. Doch ihre Augen wollten sich nicht schließen. Sie konnte nicht schlafen, hatte seit ihrem Aufbruch aus Bidewells Lagerhaus kein Auge zugetan.
    Sollte sie einschlafen – und träumen –, würde sich ihre Besucherin, ihr anderes Selbst, bereits in der gespenstischen grünen Stadt befinden, so viel war ihr klar. Denn auch Tiadba war zum falschen Ort marschiert.
    Man hatte sie beide irregeführt.
    Man hatte sie beide hintergangen.
    Ginny musste an den fetten alten Widerling und seine Andeutungen denken. Vor ihrem Aufbruch hatte sie nicht einmal mehr mit Jack oder Bidewell gesprochen. Auch nicht mit Daniel. Was hätte ihr einer von ihnen geraten?
    Vielleicht hätten sie ihr zum Abwarten geraten. Also würde sie jetzt genau das tun, denn eine andere Wahl hatte sie sowieso nicht. Sie würde hier knapp oberhalb des Talbeckens liegen bleiben, umgeben von Bergen und versteinerten Riesen, über sich einen auf dem Kopf stehenden Eisberg, der sich jeden Augenblick dazu entschließen konnte, auf sie herabzustürzen. Und abwarten. Falls nötig, würde sie ewig hierbleiben, müder und müder werden und schließlich einfach davonschweben, so schwerelos wie ein Ascheflöckchen.
    Der Moment der Ruhe dehnte sich weiter und weiter aus. Sie versuchte sich herumzuwälzen und spürte dabei, wie die Schutzblase sich so eng um sie schloss, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Auf dem Rücken liegend, sah sie zu, wie der Eisberg den Feuerring verdunkelte. Die Flammen hatten inzwischen ein düsteres Orange angenommen, und das Dunkle im Inneren war zu trübem Violett verblasst. Nach und nach verhüllten blaue Nebelschwaden und mit prächtigem Gold eingefasste Wolken den aufgewühlten Himmel jenseits des Eisbergs. Selbst der Himmel schrumpfte jetzt zusammen.
    Beängstigend. Und trotzdem schön. Alles, was sie bisher gesehen hatte, war nur beängstigend und hässlich gewesen.
    »Es kommt etwas Neues «, murmelte sie mit tauben Lippen.
    Und meinte damit etwas Altes .

98
    Alle drei, Jebrassy, Ghentun und das Epitom des Bibliothekars, bemerkten das blasse Gebilde über der Talmitte.
    Inzwischen waren sie schon viele Kilometer marschiert und hatten sich dabei gelegentlich dem innersten Ring der sogenannten Toten Götter genähert, die einander über die

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