Die Stadt am Ende der Zeit
würden? Mit mühsamer Selbstkontrolle nahm Jebrassy Platz und starrte auf den schwarzen Staub und die scharfkantigen, uralten Steine.
»Der Pfad, den wir nehmen, entspricht der besten Route, die ich aus allen Geschichten herausfiltern konnte«, erklärte Polybiblios. »Stütz dich auf die Fähigkeiten, die sich gerade in dir
entwickeln. Denk an Ishanaxade, die die gleiche Reise gemacht hat. Denk daran, wie lange sie sich schon dafür opfert, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.«
»Du hast dafür gesorgt, dass wir nach den Geschichten suchen und sie dann auf den Marsch mitnehmen. Du wolltest, dass wir die wahre Geschichte finden, und hast deshalb alle Geschichten von uns ausprobieren lassen. Weil du nicht mehr wusstest, welche Geschichte der Wahrheit entspricht. Du warst nachlässig .«
»Dass ich nachlässig war, leugne ich ja gar nicht«, erwiderte Polybiblios. »Doch selbst wenn es uns gelungen wäre, die Vergangenheit viele Billionen Jahre lang vollständig aufzuzeichnen und zu konservieren, hätte es, praktisch gesehen, weit mehr Zeit und Energie gekostet, all das in einem Mikrokosmos unterzubringen, als ein Babel zu schaffen und es zu durchsuchen. Und hätten wir uns dafür entschieden, nur eine einzige Geschichte zu bewahren – oder auch wenige mehrdeutige Geschichten – , hätte das niemals dazu ausgereicht, einen neuen Kosmos zum Leben zu erwecken. Nicht dazu ausgereicht, Mnemosyne aus der Reserve zu locken und den Schläfer zu wecken. «
»Den Schläfer?« Ghentun nahm gegenüber von Jebrassy und dem Epitom Platz. »Das ist eine uralte Vorstellung. Angeblich ist der Schläfer am Ende des ersten Schöpfungszyklus gestorben. «
»Er ist der Vater der Musen«, erklärte Polybiblios. »Vor sehr langer Zeit haben manche ihn auch als Brahma bezeichnet. Er ist nicht tot. Nur langweilt er sich – und deshalb schläft er.«
»Klingt wie Unsinn.« Jebrassy kämpfte gegen sein wachsendes Verständnis an. Er wollte nichts hören, das seine Wut womöglich
abschwächte. Tiadba war da draußen. Vielleicht würden sie Tiadba niemals finden …
Doch aus Polybiblios sickerten immer noch Informationen heraus, und diesmal hatten Ghentun und Jebrassy auch an den Gefühlen eines Großen Eidolon teil.
Ishanaxade.
Die beiden sahen einander an und empfanden dabei eine nie gekannte Traurigkeit – eine Traurigkeit, die außerhalb der Gefühlsskalen von Nachgezüchteten und Instandsetzern lag. Es war ein Gefühl von Verlust und Verrat, das sich im Laufe der Zeit noch verstärkt hatte, ausgereift und dabei nur noch schlimmer geworden war. Ein Gefühl, das sich unter Abertausend Millionen von Epitomen und Angelins und in allen Höhen und Nischen des Zerstörten Turms über den Zeitraum von fünfhunderttausend Jahren hinweg ausgebreitet hatte.
»Die Stadtfürsten. Sie haben den Leitstrahl manipuliert. Sie haben dich hintergangen «, sagte Ghentun.
»Sie haben meine Tochter hintergangen.« Polybiblios wandte den Blick von ihnen ab, als könne er es nicht ertragen, den eigenen Kummer in ihren Mienen gespiegelt zu sehen. »Vielleicht haben wir alle sie hintergangen. Was muss sie nur fühlen, nach all dieser Zeit, in der sie sich da draußen verborgen und abgewartet hat. Oder, noch schlimmer, gefangengenommen wurde.«
»Wenn du alle Geschichten kennst, weißt du auch, wie all diese Geschichten ausgehen«, sagte Jebrassy. »Welche ist die wahre?«
»Geschichten haben sehr viel mehr Enden als Anfänge«, erklärte Polybiblios. »Die besten Geschichten beginnen in der Mitte, kehren danach zum Anfang zurück und kommen dann
zu einem Schluss, den niemand vorhersehen kann. Geht man dann wieder zur Mitte, kann es passieren, dass die Geschichte sich erneut verändert. Zumindest war das so, als ich noch jung war.«
Seine Stimme wirkte wie hypnotisch auf sie. Sie sahen ein herumwirbelndes Netz von Schicksalsfäden, in dessen Mitte eine winzige, nur vage zu erkennende Gestalt saß, fast vergessen nach so vielen Jahren.
»Die Stadtfürsten!« Ghentuns Ausruf klang wie ein Fluch.
»Sie kamen überein, Ishanaxade ohne dein Wissen auf eine geheime Mission zu schicken«, sagte Jebrassy. »Aber warum?«
Ghentun faltete die Hände wie zum Gebet. »Ishanaxade hat sich aufgeopfert, um den Bibliothekar zu retten. Sie nahm den Schlüssel zu einem vollständigen Babel mit, das der Bibliothekar im Zerstörten Turm geschaffen hatte.«
»So viel scheint zu stimmen«, erklärte Polybiblios. »Bei all unseren Meinungsverschiedenheiten war
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