Die Stadt am Ende der Zeit

alle Zeiten in Selbstmitleid und gleichgültiger Zufriedenheit zu schwelgen.
    Als die Lichtbogen intensiver zu strahlen begannen, schien sich die Glaswand zu verflüssigen und die Gestalt, durch das Rauchglas nur wenige Zentimeter von Ginny getrennt, leicht zurückzuweichen.
    Ginny empfand überhaupt keine Traurigkeit mehr, nur noch Gelassenheit und Zufriedenheit, ein Einverständnis mit allem, was sie je gewesen war, mit all ihren Fehlschlägen, all ihren Niederlagen.
    Das hier war ihre Geschichte. Endlich hatte ihr Leben seinen Abschluss gefunden, wie unbefriedigend der Ausgang dieser Geschichte auch sein mochte.
    Wie seltsam: Je weiter sich die junge Frau hinter dem Glas zurückzog, desto deutlicher waren ihre Züge und das Umfeld auszumachen, so als vervollständigten die blauen Lichtbogen die Gestalt und füllten sie aus. Mittlerweile konnte Ginny mühelos erkennen, was sie in den Händen hielt: Auch sie hatte einen Stein dabei, nur war dessen Glanz stumpf geworden. Es war ein erloschener Integralläufer, der seinen Weg durch die Gezeiten nicht hatte fortsetzen können, als seine Hüterin gefangen genommen wurde.
    Jetzt strahlten die Lichtbogen so hell auf, dass sie Ginny blendeten. Sie übertrugen etwas Substanzielles, nahmen es Ginny weg und pflanzten es dem erstarrten Mädchen ein, das nutzlos und verbraucht im Rauchglas festsaß.
    Ginny zog die Hand zurück, keineswegs hastig, weder mit Abscheu noch mit Angst. Sie löste sich einfach mit aller verbliebenen Kraft von der Scheibe. All diese Mädchen – junge
Frauen – waren genau wie sie. Aber sie alle hatten den Luxus vielfältiger Weltlinien genossen, hatten scheitern dürfen, ohne dass damit etwas unwiderruflich zu Ende ging. Hatten Nachfolgerinnen gehabt, und auch diese hatten sich zu ihnen gesellt.
    Doch für sie selbst galt das nicht mehr. Nicht für diese Ginny-Version.
    »Ich bin die Letzte, stimmt’s?«, murmelte sie diesem sanften, alles verzeihenden Grab jeglicher Hoffnung zu.
    Wäre sie eine andere Hirtin mit einer anderen Geschichte gewesen, hätte sie die Stadt vielleicht durch einen anderen Eingang betreten, wäre aus einem Instinkt heraus auf anderem Weg durch das Labyrinth gekrochen und hätte andere Fehlentscheidungen getroffen … Dann wäre sie auf eine andere endlose Rauchglaswand gestoßen und anderen verschollenen Versionen ihres Ichs begegnet.
    Vielleicht gab es hier draußen auch eine Vitrine voller Jacks und eine voller Daniels. Nein, im Fall von Daniel war das eher unwahrscheinlich.
    Als Ginny mehrere Schritte von der Glaswand entfernt stehen blieb, schwand die Kraft der blauen Lichtbogen, die durch ihre Schutzblase hindurch bis zu dem erstarrten Mädchen gedrungen waren. Sie verblassten und zogen sich unverrichteter Dinge zurück.
    »Diesmal darf ich nicht falsch abbiegen«, murmelte sie. »Ich habe Freunde, die mich brauchen. Ich bin zwar allein, aber nicht mehr lange.«
    Als sie diesmal herumwirbelte – ein bisschen linkisch, weil sie etwas Neues ausprobierte –, sorgte sie dafür, dass nicht sie selbst, sondern ihr Umfeld eine Linksdrehung vollzog. Danach
bahnte sie sich den Weg durch diese unbegreifliche Müllhalde, auf der die Reste eines ausgeplünderten, sterbenden Kosmos lagerten.
    Ihr war klar, dass sie wieder einmal eine Fehlentscheidung getroffen hatte (schließlich warteten nur neuerliche Prüfungen und weitere Qualen auf sie), doch zumindest hatte sie in diesem Fall die besten Gründe dafür.

104
    Jebrassy ging langsam neben Polybiblios her. In ihm brannte kaum noch Feuer, seine Kraft war fast versiegt. Er fühlte sich nicht einmal mehr halb so stark wie vor der Trennung von Tiadba.
    Auf einer hohen Wand hinter dem Schicksalsmorast – zusammen mit anderen Mauern schien sie ein riesiges Achteck zu bilden – stieß Ghentun wieder zu ihnen. Unterhalb der Mauern waren die Perspektiven stark verzerrt. Nur ein bläulicher Lichtschein in der Ferne lockerte die Szenerie auf. Vielleicht wurden dort andere Geschöpfe aus ursprünglicher Substanz einer Prüfung unterzogen und miteinander verglichen.
    Gefangen genommene Marschierer. Tiadba!
    »Was war denn los?«, fragte Ghentun.
    »Eine unvermutete Begegnung«, erwiderte Polybiblios, während sie stehen blieben, damit Jebrassy wieder zu Kräften kommen konnte. Der Schutzanzug schien ihm dabei kaum zu helfen.
    »Ich habe in der Zwischenzeit die Gegend ausgekundschaftet«, erklärte Ghentun. Von hier aus hatten sie Ausblick auf die Kammern, die vermutlich viele weitere