Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
heraus und musterte ihn im trüben Licht. Er zerrte kaum noch in irgendeine Richtung und ließ sich in ihren Fingern mühelos drehen. Unter ihren rauen Fingerspitzen fühlten sich sogar seine Erhebungen und Furchen geglättet an. Und kühl. Selbst das rote Wolfsauge hatte seinen Glanz eingebüßt.
    »Falls du mich im Stich lässt, sitze ich hier fest, stimmt’s?« Als sie aufstand, spürte sie, wie die Schutzblase sich so zusammenzog, dass sie auch eine Farbschicht auf ihrer Haut hätte sein können. Das Spiel lief auf das Ende zu. Vielleicht hatte es anfangs einen plötzlichen Überdruck von Energie gegeben (Bidewell hätte es möglicherweise erklären können). Doch jetzt schloss das ganze Universum einschließlich der vom Typhon beherrschten abgestorbenen, demontierten Teile seine Bücher und hinterließ eine völlig chaotische Endabrechnung. Ohne Rücksicht auf Verluste, weil sowieso alles ausgelöscht werden würde.
    Inzwischen hatte sie kein Gefühl mehr in den Füßen. Langsam ging sie auf einen Lichtschein in der Ferne zu. Achtete gar
nicht mehr auf das verrückte Zeug, das sich ringsum stapelte. Hatte nicht mehr genügend Energie, Neugier aufzubringen und es zu inspizieren.
    Sie war allein, und das war gut so. Wenn sie ihre letzte Fehlentscheidung traf, würde niemand hämisch herumgackern. Aus dem Labyrinth heraus, und dann geradewegs nach …
    Ihr Blick fiel auf eine lange Wand aus Rauchglas, die sich auf beiden Seiten bis zum Rand ihres Sichtfelds erstreckte. In die Wand eingeschlossen waren Dutzende, Hunderte – sie sah nach rechts und links – nein, Tausende deformierter, schwebender, regloser Gestalten. Allesamt junge Frauen. »Jetzt reicht’s aber!«, flüsterte sie und presste sich mit der Schutzblase näher ans Glas, um besser sehen zu können. Von ihren Wangen, dem Kinn und den Fingern stiegen bläuliche Lichtbogen auf und erstreckten sich bis zu dem im Rauchglas eingesperrten Körper, der ihr am nächsten war.
    Die Gestalt kam ihr bekannt vor. Leere Augen, Augen ohne jede Hoffnung, saßen in einem erschlafften Gesicht, das weder Schmerz noch Verzweiflung ausdrückte, sondern unbeteiligt wirkte. Es hatte große Ähnlichkeit mit ihrem eigenen Gesicht, hätte man es in einem grässlichen Zerrspiegel betrachtet.
    »Ist das hier mein anderes Selbst?«, flüsterte sie. »Ist das hier Tiadba? Sie sitzt irgendwo in der Falle, genau wie diese Frau.«
    Doch die Gestalt sah nicht wie die Tiadba ihrer Träume aus. Nein, diese Frau war eine Version von ihr selbst. Und sie …
    Die Gestalt hielt irgendetwas in der Hand. Nein, eher baumelte es herunter, ohne dass die Finger es direkt berührten. Ehe man sie hier eingeschlossen und in diesem zeitlosen Schwebezustand konserviert hatte, musste sie den Griff verzweifelt oder schicksalsergeben gelockert haben.
    »Du bist falsch abgebogen, müde geworden und hast schließlich aufgegeben«, sagte sie zu ihrem anderen Selbst. In Ginny wuchs ein Gefühl von Sympathie, Vertrautheit und Wärme, und es galt nicht nur dieser Gestalt, sondern auch deren Schicksal. Wie angenehm, nie mehr denken, sich bewegen, etwas fühlen zu müssen. Aller Verantwortung für Fehlentscheidungen enthoben zu sein. Ein sanftes Ende. Nicht das, was sie hier draußen im Chaos, am Rande der Trügerischen Stadt, erwartet hätte.
    Ein Ende, das eher Gleichgültigkeit und Leere ausdrückte als Grausamkeit.
    Die bläulichen Lichtbogen, die von ihren Fingern und dem Gesicht aufsprangen, wirkten wie eine sanfte Massage, ließen ihre Haut prickeln. Es war ein Prickeln, mit dem sie sich durchaus anfreunden konnte, ein angenehmes Gefühl. Sie war ihrer Familie nahe, der Familie all ihrer anderen Versionen, die gescheitert waren und später … Vergebung erlangt hatten.
    Hier hatte sie den ihr bestimmten Weg gefunden, der vorsah, dass sie die Bekanntschaft mit den anderen Versionen ihres Ichs erneuerte.
    Irgendwie hatte diese Situation etwas an sich, das sich von der ungehobelten Grausamkeit des übrigen Chaos abhob. Als herrsche hier so etwas wie Mitgefühl.
    Sie erkannte darin etwas wieder: die Melancholie, die mit Macht und Fremdartigkeit verbundene Zartheit, die sie auch damals im Wald gespürt hatte, mitten in dem Wirbelsturm, in dem überwältigenden, herumwirbelnden Dreieck, das verzweifelt nach ihr gesucht hatte.
    Das hier war der Ort, zu dem die Kalkfürstin ihre Gefangenen brachte. Oder wohin sie freiwillig kamen, um sich mit den
verschollenen Versionen ihres Ichs wieder zusammenzutun und für

Weitere Kostenlose Bücher