Die Stadt am Ende der Zeit
Schicksalsmoraste umschlossen. »Manches hier ähnelt immer noch dem alten Nataraja. Die Unterkünfte der Devas sind fast unverändert, wenn sie auch leer stehen.«
Jebrassy hob den Kopf. »Die Materiekriege«, warf er ein.
Polybiblios fasste ihn an der Schulter. »Ist jetzt nicht unsere Sorge. All das ist Geschichte, die längst vergangen und begraben ist.«
»Deine Art – die Devas – hat man damals gezwungen, Eidola zu werden«, fuhr Jebrassy fort. »Viele sind deshalb nach Nataraja geflohen. Warum hast du’s nicht getan?«
»Aus dir sickern immer noch Informationen heraus«, beschuldigte Ghentun das Epitom. »Er braucht Ruhe.«
»Ich kann’s nicht verhindern«, erwiderte Polybiblios. »Meine Bestandteile sind seit einer Milliarde Jahren durchtränkt von Informationen.«
»Wann hat es je geklappt?«, frage Jebrassy. »Wann hat man je das Erbe und Geburtsrecht anderer respektiert?«
»Oft genug für sehr lange Zeiträume«, mischte Ghentun sich ein und sah das Epitom so an, als wolle er mit seinen Geschichtskenntnissen auftrumpfen.
»Doch dann folgte, so weit wir uns erinnern, stets der Zusammenbruch, der Rückfall in die Barbarei, der Kampf«, sagte Polybiblios, der von Ghentuns Konkurrenzverhalten gar nichts mitbekommen hatte. »Man hat den Kosmos damit besudelt, und das Zerstörungswerk des Typhon hat die Geschichte noch weiter verzerrt. Während der Zeit der Leuchtenden Pracht hätten manche vielleicht von der Erbsünde geredet. Aber es war
keine Erbsünde, sondern hat sich vom Ende der Zeit zurück in die Vergangenheit geschlichen. Wir haben dem Universum einen würdevollen Tod verweigert. Haben zugelassen, dass der Typhon eine geschwächte und überdehnte Zeit für sich ausnutzen konnte. Brahma schläft immer noch. Nicht einmal ein Eidolon wird die Gestalt und Natur der ursprünglichen Schöpfung jemals verstehen. Wir gewinnen allerdings gewisse Einsichten, wenn wir über den jetzt fast erloschenen Glanz der Materie nachsinnen.«
Ghentun war verblüfft. Vom Glanz der Materie hatte er noch nie gehört.
»Wir sollten weitergehen«, drängte Polybiblios. »Uns bleibt nur noch wenig Zeit.«
»Aber Jebrassy muss sich ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen«, rief Ghentun dem Epitom ins Gedächtnis – allerdings nicht völlig uneigennützig. Hier gab es eindeutig tiefe, uralte Geheimnisse, die einer Aufklärung bedurften. Und er war bereit, dafür sogar seinen Neid und Groll zurückzustellen.
»Nicht hier«, entgegnete Polybiblios. »Falls der Zeitstrudel – oder was es auch sein mag – tatsächlich immer noch einige Züge des alten Nataraja umfasst, gibt es einen besseren Ort … einen Schutzraum, zu dem der Typhon keinen Zugang hat. Dort haben wir vielleicht auch Zeit für bestimmte Erklärungen. «
»Also war es im Kosmos nicht von Anfang an schlecht?«, fragte Jebrassy, während Ghentun ihm auf die Beine half. »Sondern erst vom Ende an?«
»Was verloren ist, ist verloren, junger Freund«, erwiderte Polybiblios. »Lass uns mit dem Wenigen arbeiten, das noch da
ist. Das metrische System ist erheblich geschrumpft. Wir sind jetzt schon schneller vorangekommen als sämtliche Marschierer vor uns. Das können wir zu unserem Vorteil nutzen.«
Wie die meisten der letzten großen Erdstädte verkörperte Nataraja einst höchste Effizienz. Es dehnte sich nicht über Tausende von Kilometern aus, sondern konzentrierte sich auf einen hohen Bau miteinander verbundener Kugeln, die von schwebenden, sanft geschwungenen Gebilden durchschnitten und gestützt wurden – den Vierteln und Stadtteilen für Geschöpfe anderer Beschaffenheit und Überzeugung. Die gesamte Konstruktion war von vielen verschiedenen Schutzschilden umgeben, die Nataraja gegen die Bedrohungen längst vergangener Epochen verteidigt hatten. Nachdem diese Bedrohungen verschwunden und neue an ihre Stelle getreten waren, hatte man die Schutzschilde umgestaltet und in die Matrix der Stadt integriert, wie ja auch die Städte in den Frühzeiten der Leuchtenden Pracht ihre alten Schutzwälle in sich aufgenommen hatten, als sie gewachsen waren.
Aufgrund seiner Ausbildung im Zerstörten Turm und des ständigen Informationsflusses, für den das Epitom sorgte, konnte Jebrassy nun endlich seine Neugier befriedigen, und das setzte neue Kräfte in ihm frei. Jetzt erfuhr er vieles von dem, was er immer schon hatte wissen wollen, Geheimnisse, die man seiner Art stets vorenthalten hatte, weil sie in der Hierarchie der Kalpa ganz unten angesiedelt
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