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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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geschäftsmäßige Angelegenheit.
    Doch jetzt befasste er sich mit größeren Dingen. Schon als Kind war Glaucous vage bewusst gewesen, dass nichts so war, wie es auf den ersten Blick aussah. Der schöne Schein wurde Stunde für Stunde nur für jene mit Geld und gesellschaftlichem Rang erzeugt – eine Fassade für die Privilegierten, die die
zugrunde liegende Brutalität kaschierte. Für die Armen, die Hungrigen war die Herrschaft des Privilegs nur ätzender Speichel zwischen verfaulenden Zähnen, bei einem Trinkgelage kaum ein hämisches Johlen wert. Zieh in den Krieg, und du wirst in einem Schützengraben sterben. Klau einen Brotlaib, um deinen Geschwistern zu essen zu geben, und die Bullen werden dir einen Schlag in die Rippen versetzen und dich ins Kittchen verfrachten. Und da kannst du dann zitternd hocken, bis du schwarz wirst, während jeder Atemzug wie ein Dolchstoß ist.
    Tod, Schmerzen, Privilegien: Nichts davon kannst du irgendwie steuern. Also richte den Blick lieber auf die Gosse, ehe die Ratten zubeißen können.
    Ich kenne diesen Ort. Hier enden alle Privilegien. Für mich ein Glück, für die Vögel das Todesurteil.
    Er blieb stehen, um Luft zu holen. Ein Wunder, dass sie alle noch atmen konnten. Die Gruppe bewirkte dieses Wunder. Daniel hätte es zwar nicht so genannt, doch Glaucous kam es so vor. Und dennoch hätte er Jack den Magier bedenkenlos in einen Vogelkäfig gesteckt und verkauft. Und dann wäre Jack durch den Zeitriss hierherbefördert worden, zusammen mit dem Mädchen und so vielen anderen, und alle Hoffnung wäre vergeblich gewesen.
    Fang die Vögel. Beiß dem Lamm in den Hals und lass es ausbluten. Es waren ja niemals meine Vögel, meine Lämmer. Eine nüchterne Angelegenheit, ein Geschäft.
    Aber das hier …
    Selbst damals, auf den Straßen, als er hinten im Karren durchgerüttelt wurde, hatte der kleine Max das Glück willkürlich auf sich ziehen können. Er hatte den Karren zu den stillsten
Weiden gelenkt, wo am wenigsten gejagt wurde, zu den größten und am besten versteckten Vogelschwärmen. Und selbst dort hatte er dank seiner besonderen Ausstrahlung den Anschein einer friedlichen Szenerie erzeugen können, einer Szenerie voll munterer Vögel, Käfer, Beeren und jeder Menge Samenkörner – den Anschein einer geschützten Umgebung ohne Habichte, ohne Jäger. Die Illusion von Lebensfülle.
    Als ihn irgendetwas an die Schultern stieß, krümmte er sich zusammen und wartete auf einen Schlag. Jetzt wurde ihm das Atmen noch schwerer. Vielleicht würde er ersticken. Von Daniel und Jack konnte er nichts erkennen.
    Doch man ist ja niemals ganz allein.
    Glaucous blickte auf und duckte sich in Erwartung dessen, was er bestimmt gleich sehen würde. Doch stattdessen zeigte sich nur ein bräunlicher Mischmasch über seinem Kopf. Es sah so aus, als kräusele sich Kohlenrauch am Himmel und bilde dort Schleifen, Spiralen und Kurvenlinien. So träge, als projizierte jemand einen Blitz in Zeitlupe an den Himmel, flackerte hin und wieder Licht auf. Der Rauch senkte sich stückweise herunter, als hätten sich Steinbrocken im Sog eines Erdrutsches gefangen; es sah so aus, als wollte sich irgendetwas die Schleifen und Spiralen einverleiben. All das vollzog sich in völliger Stille. Und durch den Rauch hindurch waren breite, mit Flecken gezeichnete Flügel auszumachen und das Trugbild eines flatternden Mannes, der unmöglich hier sein konnte.
    Wie immer, wenn er den Ansturm einer bösen Macht verspürte, sank Glaucous auf die Knie.
    Der Nachtfalter.
    Gleichzeitig trat ein dünner, pechschwarz gekleideter Mann mit Klumpfuß aus dem Dunkel und breitete die Arme aus.
»Letzter Aufruf«, sagte Whitlow fröhlich. »Die Hölle kennt keinen Zorn, der so heiß ist wie der einer betrogenen Frau, Max. Zu uns ist sie hart gewesen und hat uns Vorwürfe gemacht. Aber Sie – Sie stehen immer noch in ihrer Gunst. Haben ihr ganz allein die hübschen Vögelchen zugeführt. Und sogar noch einen Vogel, der gar nicht eingeplant war. Meine Beute. Den schlechten Hirten.«
    Glaucous schluckte seine Angst hinunter. »Was diese Vögel betrifft …«
    »Keine Entschuldigungen und kein Rückzieher, Mr. Glaucous. Es ist an der Zeit, dass Sie Ihre Belohnung bekommen.«
    Die von Wolken umhüllten, herumwirbelnden Felsen drehten sich so, dass sie den Blick auf eine offene Mitte freigaben.
    »Kommen Sie mit uns«, sagte Whitlow. »Wie immer weist uns der Nachtfalter den Weg.«

106
    Wer von euch träumt von der

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