Die Stadt am Ende der Zeit
war. Schon die Tatsache, dass er sich an dem Ort befand, den so viele Nachgezüchtete angestrebt hatten, weil man sie eigens dazu geschaffen hatte – in der legendären Stadt aus Tiadbas Büchern –, kam ihm, zumindest für den Augenblick, unfassbar und wundersam vor.
Wie unheimlich und abstoßend Teile dieser Stadt auch wirkten. Wäre Tiadba jetzt doch bei ihnen …
Dann hätten sie diese Geschichte gemeinsam zu Ende bringen, die Rätsel gemeinsam lösen können. Das Epitom des Bibliothekars behauptete, die Situation sei nicht immer so schlimm gewesen … Und das bedeutete, dass es vielleicht Träumer gab, die mit wunderschönen Geschichten zu ihnen kommen würden. Könnte man jene verlorenen Teile der Vergangenheit doch nur wieder zusammenfügen und wiederbeleben …
All das war natürlich nur fantastisches Wunschdenken. Doch sein Körper spürte neue Kraft. Hoffnung für Tiadba, doch nicht nur das: Hoffnung für alle Nachgezüchteten der alten Art…
Er rang darum, all das zu begreifen.
Hoffnung für jede Art von Mensch und Lebewesen, die je existiert hatte. Wie wir jetzt leben, wie man schon seit mehr als einer halben Ewigkeit, vielleicht sogar seit einer ganzen Ewigkeit gelebt hat, ist nicht der einzige gangbare Weg!
Ausgerüstet mit den vereinten Fähigkeiten und Kenntnissen Ghentuns und des Epitoms, stiegen sie von den unzähligen Nischen des Schicksalsmorastes weiter nach oben und blickten auf das Zentrum des großen Trichters. Dort stapelten sich eingestürzte Schutzschilde und Dächer in vielen Schichten übereinander. Der Schutt war mit Trümmern übersät, wies aber auch grob rekonstruierte Arenen, Straßen und sogar ganze Stadtviertel auf. Direkt in der Mitte konnten sie mit Hilfe der sonderbaren Lichtspiele des Chaos und der gemeinsamen Anstrengung ihrer Helme die Masse der Gefangenen ausmachen, die der Typhon an diesem Ort zusammengeführt hatte.
Es waren nicht nur Marschierer. Bei dieser Gruppe hatte der Typhon sich offenbar weitgehend damit begnügt, sie draußen im Chaos zu lassen, gefangen in der Endlosschleife zum Scheitern verurteilter Bemühungen. Nein, hier waren Vertreter aller großen Zivilisationen und Außenposten der Menschheit in den früher lebensfreundlichen fünfhundert Galaxien versammelt.
Es war ein Museum des Todes.
»Ich habe Freunde da unten«, sagte Polybiblios. »Wie ich sehe, hat der Typhon auch einige Shen eingesammelt. Und dahinten, jenseits der Seen und Meere, vor den alten fruchtbaren Wäldern …«
»Hör auf, mir schwirrt ja schon der Kopf«, unterbrach ihn Ghentun.
»Also gut. Jedenfalls scheint der Typhon all seine Trophäen an einem Ort zu konzentrieren. Er hortet sie. Kommt, wir statten ihnen einen Besuch ab. Vermutlich werden sie uns in ihrem traurigen Zustand nicht einmal bemerken.«
105
Trotz des Risikos ging Jack den anderen voraus. Die eingestürzten Mauern und Stützpfeiler und die riesigen gesprungenen Kugeln im Inneren Natarajas boten ein Gewirr von Durchgängen. Die anderen würden notgedrungen mit ihm Schritt halten müssen, doch er war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte.
Er musste Ginny finden, schließlich fühlte er sich für sie verantwortlich. Aber nicht nur das: Sie fehlte ihm. Nie zuvor hatte er sich mit einem Mädchen wohlgefühlt. Diese Augenblicke im Lagerhaus waren etwas Besonderes gewesen. Er hatte dort etwas gespürt, was er sonst niemals besessen hatte: einen Mittelpunkt.
Glaucous konnte Daniel zwar noch sehen, aber keine Spur von Jack entdecken. Allerdings schien hier die Aufspaltung der Dreiergruppe nicht so schlimme Folgen zu haben wie da draußen, im Ödland jenseits dieses Kuddelmuddels.
Mittlerweile dachte er viel an den alten Vogelfänger, den schwankenden Karren, ihre Beute, die sich nach und nach in ihr Schicksal fügte, während sie in der Morgendämmerung über die Landstraßen zurück nach London rumpelten. An das bei jeder Erschütterung hörbare Scheppern der Eisensterne, mit denen die Vogelbauer beschwert waren. An den Gestank der Vogelscheiße, der sich säuerlich und penetrant über die Ausdünstungen frischen Dungs legte. An den feuchten, schalen Kohlerauch, der sich in der kühlen Luft sammelte. Die Hungrigen und Verzweifelten kennen keine Schuldgefühle, genauso wenig wie der Wolf, der seine Zähne in den Hals eines Lamms schlägt. Ein barmherziges letztes Erbeben, ein Knacken der Wirbelsäule – und aus. Hier geht es nur um Nahrung, nicht um Gefühle. Eine nüchterne,
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