Die Stadt am Ende der Zeit
außergewöhnliches Zuchtergebnis untersuchen.« Er projizierte das Bild eines jungen Mannes, der vor Aggressionen schier zu platzen schien. »Diesen hier habe ich erstmals beim Wettstreit auf den brachliegenden Feldern entdeckt. Und einmal, als ich an ihm vorbeiging, habe ich ihn dabei ertappt, wie er in meine Richtung starrte. Fast so, als könne er mich sehen.«
Die Gestalterin warf zwei Arme nach vorn, griff nach dem Bild, wirbelte es herum und ließ es los. Es flog davon und verblasste. Sie mochte solche Projektionen nicht. »Er heißt Jebrassy. Ich habe ihm ein bisschen zu viel Temperament mitgegeben. Er ist ein geborener Marschierer und wird sich schon bald einem deiner Selbstmordtrupps anschließen.«
»Und wie steht’s bei ihm mit der Reproduktion?«
»Er ist einer der neuen Zeugungsfähigen, falls irgendeine gebärfähige Frau ihn will, was ich bezweifle. Er hat die Resonanz einer Glocke. Schon im pränatalen Feld ist etwas in ihn gefahren, hat seine Stimme benutzt und ihn verwandelt. Ich vermute, dass er heftig träumt. Die Zöglinge nennen das Herumgeistern . Typisch dafür sind Augen, die nichts sehen, leerer Blick, unruhiger Schlaf. Schreckt die anderen ab.« Die Gestalterin musterte Ghentun mit schrägen Blicken aus ihren
drei mittleren Augen, die anklagend, ungeduldig und zugleich belustigt wirkten. »Geisterst du vielleicht auch herum, mein Freund?«
Diese absurde Unterstellung wollte Ghentun nicht mit einer Antwort würdigen. »Der hier kommt mir richtig vor«, sagte er stattdessen. »Ich werde mich mit Grayne beraten und etwas in die Wege leiten …«
»Grayne? Weilt sie immer noch unter uns? Die ist wirklich ein zäher Brocken. Eine meiner besten Arbeiten, macht einfach weiter und weiter …«
»Inzwischen ist sie eine Sama. Und rekrutiert Marschteilnehmer. «
»In ihrer Jugend war sie einfach wunderbar. Schande über uns alle, dass wir unsere schönen Kinder in diese Wüste schicken. Ich bin auf meine Arbeit hier noch nie stolz gewesen, Hüter.«
»Aber deine besonderen Gaben sind sonst nirgendwo gefragt, Gestalterin.«
Das räumte sie ein. »Der Bibliothekar sollte sich freuen. Diese Züchtungen vibrieren bei der leichtesten Erschütterung der Weltlinien. Während die Eidola sich uneingeschränkt einem Vergnügen nach dem anderen hingeben und das Offensichtliche zu ignorieren versuchen, reagiert unser Nachwuchs inzwischen außerordentlich empfindlich auf etwas, das ich nicht richtig fassen kann, egal wie ich mir den Kopf darüber zerbreche. Vielleicht ist es die Vergangenheit, die sich in Agonie windet und Fäden zu uns knüpfen will. Meinst du nicht auch, Hüter?«
Auch darauf gab Ghentun keine Antwort. Beide wussten sie, dass es wahrscheinlich zutraf. Schließlich hatte man die Ebenen vor allem aus diesem Grund geschaffen.
»Dennoch lässt die Leistung der Realitätsgeneratoren immer mehr nach. Und das Chaos kennt keine Geduld«, fuhr sie fort. »Wie lange wird es noch dauern, bis der Bibliothekar dir Gehör schenkt?«
»Nicht mehr lange.«
»Den Eidola kann man es niemals Recht machen, das ist mir während meines langen Lebens stets klar gewesen. Falls der Bibliothekar noch immer nicht zufrieden ist …« Unvermittelt und schneller, als Ghentun denken konnte, griff die Gestalterin in seinen Beutel und zog das grüne Buch heraus. Dabei griffen ihre Finger so fest zu, dass sie das Buch zu zerquetschen drohten. »Dieser kleine Schatz ist uralt. Und du hast ihn deiner Sama gestohlen.«
»Genauer gesagt: ihrer Vorgängerin.«
»Und, ist das Buch aufschlussreich?«
»Es ist in der Ursprache der Nachgezüchteten geschrieben und verändert sich jedes Mal, wenn ich es lese. Deshalb nehme ich an, dass es nicht für unsere Augen bestimmt ist.«
»Wieso befasst du dich dann überhaupt damit?«
»Aus Neugier. Und wegen meines schlechten Gewissens.« Ghentun grummelte etwas vor sich hin – damit drückten Instandsetzer Verlegenheit oder Belustigung aus. »Bist du denn gar nicht neugierig darauf, was der Bibliothekar mit dem Nachwuchs vorhat?«
Die Gestalterin schnaubte abfällig. »Wir könnten noch mal von vorn anfangen. Verbesserungen sind immer möglich.« Offenbar war sie nicht willens, ihre Arbeit zu stecken, so sehr deren Resultate und quälende Umstände ihr auch zu schaffen machten. »Wie viel Zeit bleibt uns denn noch? Was meinst du – einige Tausend Jahre?«
»Das bezweifle ich.« Ghentun bat sie mit einer Geste, ihm das Buch zurückzugeben. Widerwillig reichte sie es ihm
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