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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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schien, allerdings hatte es nichts Beängstigendes an sich. Aus irgendeinem Grund war ihm klar, dass diese Person einfühlsam war, Anteil an ihm nahm, sich für ihn interessierte. Und mehr als das.
    Im Hintergrund dieses Gesichts öffnete sich ein Tunnel, der in künstliche Helligkeit führte. Ihm fiel auf, dass sein eigenes Gesicht so erschlafft war, dass er wie ein Idiot wirken musste, und er schwere Lider hatte.
    Er träumte wieder.
     
    Das Gesicht war flacher, als er es gewohnt war, und die Knollennase mit rosafarbenen Härchen besetzt. Dichter rötlicher Flaum reichte bis zu den Wangen. Winzige Ohren.
    Als seine bisherigen Bewertungen von Anatomie neuen wichen, fand er das Gesicht anziehend und bald darauf sogar schön und begehrenswert. Doch in das Begehren mischte sich sofort ein Anflug von Besorgnis und Traurigkeit.
    Sein Haar kam ihm anders vor als sonst: Die kurzen Haarbüschel, weit hinten am Schädel, waren stachlig und glichen eher Borsten als menschlichem Haupthaar. Er versuchte, wieder Kontrolle über seine Lippen und die Zunge zu bekommen, aber das war nicht leicht. Alles, was er zu sagen versuchte, kam nur verstümmelt heraus. Er betastete seine heißen Ohren: Sie fühlten sich wie Knollenpilze an.
    Die Frau mit der flachen rosafarbenen Nase strich ihm mit zarter Hand über die Stirn und sagte erneut irgendetwas, das für ihn wie Kauderwelsch, aber trotzdem sehr hübsch klang. Vielleicht rezitierte sie ein Gedicht oder sang für ihn. Die Farben in seinem Blickfeld spielten verrückt. Er vermochte nicht zu sagen, ob die Frau blau, braun oder rosa war. So als gewinne ein Bild nach und nach an Schärfe, verwandelten sich die Fehlfarben allmählich in natürliche Farben; zugleich trat jetzt ein neues Sprachvermögen an die Stelle des alten, so dass ihm das Reden leichter wurde. Auch seinen Körper konnte er wieder besser beherrschen, zumindest Gesicht und Mund.
    »Du bist wieder da«, sagte sie. »Wie schön. Erinnerst du dich noch an mich?«
    »Ich glaube … nicht«, erwiderte er, wobei ihm deutlich bewusst war, dass keiner von ihnen Englisch oder eine andere ihm vertraute Sprache gebrauchte.
    »An was erinnerst du dich überhaupt noch?«
    Er sah zu der gewölbten Decke empor. Große Flügelinsekten mit glänzend schwarzen, zylinderförmigen Körpern, größer als
seine Hand, baumelten dort kopfüber hinunter oder krabbelten an der Decke entlang. Jedes war auf dem Rücken mit einem Buchstaben oder Symbol gezeichnet. Sie bewegten sich nebeneinander her, wollten offenbar Reihen und dadurch Wörter bilden. Er konnte die Wörter zwar nicht entziffern, aber dennoch wirkte alles ringsum real, völlig real, stabil und nachvollziehbar.
    »Das hier ist kein Traum, oder?«, fragte er.
    »Ich glaube nicht. Nicht auf dieser Seite.«
    »Wie lange …?«
    »Du hast schon eine ganze Weile gezuckt, aber es war nicht einmal …« Sie gebrauchte ein Wort, das er nicht erfassen und festhalten konnte, es entschlüpfte ihm einfach.
    »Wo bin ich?«, fragte er.
    »Ich will ja nicht unhöflich sein, aber hier gelten bestimmte Umgangsformen, die wir selbst festgelegt haben. Der Gefährte, mit dem du dir den Körper teilst, ist ein wenig …« Ein weiteres Wort, das er nicht verstand, jedoch für abfällig hielt. »Er hat dir eine Nachricht hinterlassen, die ich ein wenig verbessert habe. Um dir mitzuteilen, wo du bist und was du besser unterlassen solltest.«
    Da er seinen Kopf nicht drehen konnte, hielt sie ihm ein viereckiges schwarzes Tuch hin, das mit glitzernden rötlich gelben Schriftzeichen übersät war – ein Schütteltuch .
    »Ich kann das nicht lesen«, erklärte er.
    »Dann werde ich’s dir vorlesen.«
    »Ich heiße …« Doch er hatte bereits vergessen, wer und wo er früher gewesen war, vor seiner Ankunft in dieser Welt. Er versuchte aufzustehen, aber sein tauber Körper prickelte so, dass er gleich wieder zurückfiel. Voller Anteilnahme berührte sie ihr Ohr
und danach ihre Nase. Vielleicht sollte das so etwas wie ein Lächeln ausdrücken. »Lass gut sein. Versuchen wir’s mal so: Offenbar kommst du aus einer Zeit, die von dieser hier weit entfernt ist. Falls du real bist und nicht nur ein Trick der Hochgewachsenen, solltest du bestimmte Dinge erfahren.« Sie drehte das viereckige Tuch um und las ihm die glitzernden Wörter vor.
    »Willkommen, mein Gegenpol! Ich bin in jüngster Zeit auf Abwege geraten und nehme an, dass du dafür verantwortlich bist. Mehr als das, was du mit eigenen Augen siehst, kann

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