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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Angst vor ihm, wurde aber trotzdem nicht den Gedanken los, dass sie ihn im Auge behalten musste.
    Er musterte die Bücherstapel, die sie aufgeschichtet hatte. Wie jemand, der Spielkarten austeilt, hob er sie ab, fächerte mit dem Daumen die Seiten auf, hielt sie sich vor die Nase, um
daran zu schnuppern, warf aber kaum einen Blick auf den Inhalt der stark riechenden Blätter. »Sobald ein Buch gedruckt ist, ist es nicht mehr neu. Neu sind nur die Leser«, murmelte er. »Denn für ein solches Buch, für einen solchen Text, der aus einer langen Folge von Zeichen besteht, existiert die Zeit nicht. Selbst ein brandneues, frisch gedrucktes Buch, das mit seinen genau gleich aussehenden Genossen in einem Karton lagert, kann alt sein.«
    Ginny verschränkte die Arme.
    Unvermittelt grinste Bidewell sie so breit an, dass seine braunen Zähne zu sehen waren. Beißerchen wie George Washington. Nur sind diese real und wirken kräftig.
    »Alles Alte langweilt sich«, sagte er. »Würde man dich in große Stapel ewig gleicher Texte einsperren, in denen Leben und Geschichten konserviert sind, ohne sich jemals zu ändern, würdest du dann nicht auch bei passender Gelegenheit gewisse Spielchen treiben?« Er blickte auf die Gänge zwischen den Kartons, zuckte die Achseln und schnäuzte sich so forsch und feucht, dass er regelrecht ins Taschentuch trompetete. »Ein Buchstabe, der aus der Reihe tanzt, ein Wort, das sich wandelt oder verloren geht – wer wird es je merken? Wer sieht überhaupt hin, wen kümmert’s? Hat es je eine wissenschaftliche Untersuchung über solche winzigen, graduellen Abweichungen gegeben? Doch wir suchen nicht nach der belanglosen, alltäglichen Abweichung, sondern nach dem Ergebnis genialer Vertauschung: nach dem Buch, das eine andere Bedeutung angenommen oder eine Bedeutung hinzugefügt hat, während niemand hinsah, niemand es las. Und am interessantesten ist das Buch, das seine Textfolgen in allen Ausgaben, unabhängig von ihrem Erscheinungsjahr, so verändert hat, dass niemand je
erfahren wird, wie es ursprünglich, im Original, hieß. Die neue Lesart wird zur Norm. Und was diese neue Version beisteuern kann, ist bestimmt faszinierend.«
    »Wie sollte man dieses Buch je finden?«
    »Ich behalte das, was ich lese, im Gedächtnis«, erwiderte Bidewell. »Und ich habe im Laufe meines Lebens viel gelesen. Wenn sich in diesen Büchern, immerhin einer recht beträchtlichen Anzahl, irgendetwas ändert, wird es mir auffallen.« Er schwenkte seine langen Finger über den Tisch und schnaubte verächtlich. »Diese hier sind nicht sonderlich interessant. Sie weisen nur einzelne Abweichungen auf, ein Buchstabe hier, einer dort. Diese Veränderungen mögen zwar interessant, vielleicht sogar bedeutsam sein, doch in der Zeit, die uns noch bleibt, sind sie nicht von großem Nutzen.«
    »Tut mir leid«, sagte Ginny gereizt.
    »Du kannst ja nichts dafür. Bücher können auch nerven, genau wie ich.« Er zwinkerte ihr zu. »Geh diese Sendung bis zum Abend durch. Und dann bestellen wir uns was zu essen.«
    Mit undurchdringlicher, strenger Miene stakste Bidewell durch die Gänge zur Stahltür, machte sie hinter sich zu und überließ Ginny die Arbeit, die Bücher zu sortieren und aufzustapeln, bei der kein Ende abzusehen war.
    Sie öffnete den nächsten Karton auf dem Handwagen, zog ein Taschenbuch heraus und hielt sich die Seiten vor die Nase. Der Gestank modernden Papiermaschees brachte sie zum Niesen.

12
    Die Schwester stellte Jack auf eine Waage und brachte ihn danach ins winzige Behandlungszimmer der Ärztin, das in Grau und Rosa gehalten war. Dort fühlte sie ihm fachmännisch den Puls, legte ihm eine Manschette um den Arm und pumpte sie auf, um seinen Blutdruck zu messen.
    Ein paar Minuten später trat die Ärztin ein und schloss die Tür hinter sich. Miriam Sangloss war Anfang vierzig, schlank, hatte kurze braune Haare, braune Augen und ein energisches Kinn. Sie trug einen weißen Arztkittel und darunter einen grauen Wollrock, der bis über die Knie reichte. Schwarze Socken mit orangefarbenem Uhrenmuster und praktische schwarze Laufschuhe vervollständigten ihre Garderobe. Wie ihm auffiel, trug sie an der linken Hand einen Granatring, der mindestens zwei Karat haben musste.
    Sie bedachte ihn flüchtig mit einem wissenden Lächeln und musterte ihn eingehend. »Wie geht’s unserem Rattenmann heute?« Er fragte sich, woher sie von den Ratten wusste; vielleicht hatte Ellen es ihr erzählt.
    »Gut. Hab allerdings gewisse

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