Die Stadt am Ende der Zeit
und das Schwindelgefühl wich Inseln von Licht – er war zurück.
Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Fische im Aquarium und lauschte benommen auf das Summen der Klimaanlage im Wartezimmer. Versuchte an dem festzuhalten, was er gerade erlebt hatte – besonders an dem Gesicht der Frau und an den Insekten mit den Buchstaben auf dem Rücken – eine verrückte Vorstellung, die ihn eigentlich belustigte. Doch als er schließlich wieder wusste, wo er sich befand, entglitt ihm alles, und es blieb nur ein Gefühl von Panik zurück. Jemand steckte hoffnungslos in der Klemme.
Hier oder dort? Jetzt oder in dessen Zeit?
Auch diese dringlichen Fragen verblassten.
Jack blickte sich im Wartezimmer um. Von den Familien waren nur noch eine Mutter im Sari und ihr schlafendes Baby zurückgeblieben. Ein altes Paar hatte nahe bei ihm Platz genommen. Peinlich berührt blickte er auf seine Uhr. Dreißig Minuten lang war er geistig völlig abwesend gewesen. Dennoch hatte er es irgendwie geschafft, die Zeitung weiter umzublättern. Er faltete sie zusammen und steckte sie in seinen Rucksack.
Die Aufnahmeschwester tauchte in der Tür auf. »Jack Rohmer? Dr. Sangloss hat jetzt Zeit für Sie.«
11
First Avenue South
Ginny zog einen bis oben mit Kartons beladenen Handwagen durch Gänge, die zwischen weiteren Kartonstapeln hindurchführten. Inzwischen hatte sie den Trick heraus, den Wagen, der nur eine lange Deichsel mit Griff zum Lenken hatte, wie eine
altmodische Spielzeugkarre hinter sich herzuziehen, Wendekreise vorauszuberechnen und alles von vorne aus zu dirigieren. Diese Kartons waren vor zwei Tagen angekommen und kurzerhand auf der ausgekühlten, aber trockenen Laderampe abgestellt worden, unterhalb eines Regenschutzes aus Wellblech. So viele Kartons – wo kamen sie nur alle her? Woher hatte Bidewell überhaupt das Geld, all die Kundschafter auszuschicken, all diese Bücher zu kaufen und sie sich aus der ganzen Welt hierherschicken zu lassen?
Und noch rätselhafter: zu welchem Zweck?
Sie zog den Handwagen zum Sortiertisch herüber, der in derselben Ecke stand, in der sie auch schlief. Mit Lattenkisten und Kartons hatte sie ihr Bett vom übrigen Raum abgeteilt. Wie hieß es doch: Bücher machen ein Zimmer wohnlich …
Glücklicherweise war das Lagerhaus geheizt und trocken. Es herrschte darin stets eine Temperatur von 18 Grad Celsius. Zwar mochte Bidewell verrückt sein, aber das Sammeln war für ihn kein Selbstzweck, und er ließ nicht zu, dass seine Funde durch Schimmel Schaden nahmen.
Während Ginny die Kartons auspackte, trat Bidewell durch die stählerne Rolltür, die zu seiner persönlichen Bibliothek und den Privaträumen führte. In denselben dunkelbraunen Anzug wie jeden Tag gehüllt, zeichnete sein alter Körper sich wie ein angedeutetes Fragezeichen vor dem schmutzigen Weiß der Tür ab. Er blieb stehen und holte ächzend Luft, als hätte er sich in erschöpfenden Gedankengängen verloren. Sie mochten mit seiner Arbeit zu tun haben, die er nie würde vollenden können, denn diese Arbeit würde kein Mensch jemals bewältigen.
Langsam wandte er den Kopf. »Sind das alles Taschenbücher?«, fragte er.
Erst jetzt fiel Ginny auf, dass sie nichts als Taschenbücher ausgepackt hatte. In der letzten Stunde hatte sie ihre Arbeit völlig mechanisch verrichtet und, während sie ständig dieselben Bewegungen vollführte, die Gedanken schweifen lassen. »Bis jetzt ja.«
Bidewell faltete die Hände. »Bücher, die in großen Mengen gedruckt werden, lieben offenbar Veränderungen, besonders die in den großen Stapeln, die moderne Verleger in ihren riesigen Lagern aufbewahren. Wenn diese ungelesenen Bücher so dicht aufeinanderliegen und zusammengepresst werden, erreichen sie eine kritische Masse und beginnen sich zu verändern. Ein Zeichen von Langeweile, meinst du nicht auch?«
»Wie können sich Bücher langweilen? Die sind doch gar nicht lebendig.«
»Ah.«
Sie reihte die Bücher in Fünferstapeln auf dem Tisch auf. Alle waren in englischer Sprache gedruckt und nicht einmal zwanzig Jahre alt. Viele befanden sich in traurigem Zustand, während andere brandneu wirkten, mal abgesehen davon, dass das Papier schon gilbte, bei manchen die Ecken geknickt waren, die Buchrücken Risse aufwiesen oder sie auf andere Art beschädigt waren. Sie rochen moderig. Allmählich begann Ginny den Geruch von Büchern zu hassen.
Bidewell kam näher. Ginny fühlte sich von seiner Anwesenheit zwar nie bedroht und hatte auch keine
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