Die Stadt am Ende der Zeit
dem Küchentresen stand. Pilzfüllung, fiel Jack auf. »Wir haben schon gegessen. Bedien dich selbst und nimm dir auch Salat. Wein ist im Kühlschrank.«
»Muss ich mir das Essen mit einem Lied verdienen?«, fragte er.
»Nur das nicht.«
Jack schob sich eine Serviette in den Ausschnitt seines schwarzen T-Shirts, bauschte sie zu einer breiten Krawatte und setzte sich mit erhobenem Messer und Gabel in Positur. Mit seiner durch rote Hosenträger gehaltenen Schlabberhose, dem wilden schwarzen Haarschopf, dem schmalen Gesicht, den hohen Wangenknochen und den großen, feucht glänzenden Augen stellte Jack seinen imponierenden Mangel an bürgerlicher Gesetztheit wirkungsvoll zur Schau. »Was lest ihr diesen Monat?«, fragte er.
»Ein Buch von Oprah Winfrey. Dir würde es nicht gefallen.«
Er schnaubte verächtlich, was Ellen ebenso verächtlich erwiderte. »Lass es dir schmecken. Im Kühlschrank steht eine Dose Hundefutter, für deine Ratten. Ich stell dich meinen Freundinnen beim Nachtisch vor.«
Jack verzog das Gesicht. Er hatte keine Ahnung, was Ellen vorhatte. War das irgendein Test? Oder rächte sie sich auf diese seltsame Weise für irgendetwas, das sie ihm übel genommen hatte?
»Entspann dich«, raunte sie mit grimmiger Miene und stieß die Tür zum Esszimmer auf, die mit einem leichten Luftzug zurückschwang.
Jack holte das Hundefutter aus dem Kühlschrank, löffelte einen Teil davon in einen Napf und brachte es mit großer Geste zum Käfig. »Füllt eure Bäuche, meinen süßen kleinen Nager. Mit dem Fliegen ist jetzt Schluss. Und vielleicht gibt es auch lange nichts mehr zu futtern.« Nachdem die Ratten den Inhalt des Fressnapfs mit dem verglichen hatten, was sie sich sehnlich erhofft hatten – die wunderbar duftenden Brathähnchen –, machten sie sich schließlich resigniert ans Knabbern und Mümmeln.
Jack setzte sich an den Küchentresen, schlug die Zeitung auf, die er im Wartezimmer der Klinik gemopst hatte, und blätterte die Seiten mit den Kleinanzeigen durch. Er suchte nach irgendetwas, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, was es war. In der Mitte der letzten Seite stieß er schließlich darauf: Es war die Anzeige, die seine Augen im Wartezimmer gelesen und abgespeichert hatten, während der übrige Jack geistig völlig weggetreten war. Mit gerunzelter Stirn ließ er den Zeigefinger über den kurzen Text gleiten. Gleich darauf hörte er zu essen auf und rutschte unruhig auf dem Hocker hin und her. Blickte auf die Fliegengittertür, die zur hinteren Terrasse führte. Lauerte da draußen irgendetwas? Nein …
Während er weiteraß – er konnte das Hähnchen nicht einfach links liegen lassen, dazu schmeckte es zu gut –, sah er auf die Anzeige. Schließlich riss er sie heraus und steckte sie sich in die Hosentasche. Den Rest der Zeitung stopfte er in Ellens Altpapiersammler unter der Spüle.
Die Gesprächsfetzen, die durch die Küchentür drangen, klangen nach einer munteren Unterhaltung, die eine gewisse weibliche Derbheit nicht ausschloss und nach mehreren Gläsern
Wein wohl auch offenherziger als üblich verlief. Die wohlige Trägheit, die nach einer guten warmen Mahlzeit fast zwangsläufig eintritt, hatte die Zungen von Ellens Gästen offensichtlich gelöst.
Als Ellen den Zeitpunkt für gekommen hielt, servierte sie den Nachtisch, schob Jack durch die Tür und baute sich neben ihm auf. Dabei streckte sie einen Arm mit abgewinkelter Hand nach oben und stemmte den anderen in die Taille, als wäre sie eine Modeschöpferin, die ihre neue Kollektion vorstellt. Schlagartig verstummten die beiden älteren Frauen am langen Eichentisch.
»Ich hab euch ja schon von Jack erzählt«, sagte Ellen. »Er verdient sein Geld auf der Straße. Als Gaukler .«
Ellens Gäste starrten Jack an und wechselten gleich darauf verstohlene Blicke, als gebe es jede Menge zu bemerken, allerdings keine Möglichkeit, es laut auszusprechen. Niemals würde man sie bei einer solchen Unhöflichkeit ertappen – jedenfalls nicht in Anwesenheit ihrer Gastgeberin. Beide Frauen waren Ende vierzig oder Anfang fünfzig und sahen so aus, als könnte ihnen ein bisschen mehr Bewegung an der frischen Luft gut tun. Omabrillen, seidene Hosenanzüge – nein, die Rothaarige trug einen mit Strass besetzten Jeansanzug –, sorgfältig manikürte Hände, modische Frisuren. Jack machte sich schnell ein Bild von ihnen: gehobene Wohngegend, Einkommen von mehr als hunderttausend Dollar pro Jahr. Eine davon mochte lesbisch sein, aber
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