Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
wusste sie es überhaupt? Unter normalen Umständen hätte er ihnen bedenkenlos so viel Geld abgeluchst, wie er riskieren konnte, ohne ein blaues Auge davonzutragen.
    Ihrerseits musterten Ellens Gäste Jack mit formeller Höflichkeit: Dieser allzu junge Mann, ein dunkler Typ, der dazu
noch allzu gut aussah, war einfach so in ihre Frauenfestung eingedrungen. Natürlich hatte Ellen ihn dazu eingeladen, aber warum ?
    Jack räusperte sich und verbeugte sich gleich darauf. »Meine Damen, herzlichen Dank für das wunderbare Essen. Aber jetzt möchte ich Sie nicht länger stören.« Er versuchte sich durch die Küchentür zurückzuziehen, doch Ellen hielt ihn am Ellbogen fest. Da die Frauen nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollte, sahen sie Ellen hilfesuchend an. Sie ließ Jack los und faltete die Hände vor sich, sittsam wie ein braves Schulmädchen. »Jack ist ein Freund von mir«, erklärte sie.
    »Welche Art Freund?«, erkundigte sich die Älteste, die Ellen mindestens zehn Jahre voraushatte.
    »Was meint Ellen damit, wenn sie sagt, Sie verdienen sich das Geld auf der Straße?«, fragte die Rothaarige, die trotz ihrer rundlichen Figur durchaus anziehend wirkte. »Was genau macht ein Gaukler ?«
    »Ursprünglich waren Gaukler in Frankreich verbreitet, wo man sie busquer nannte. Ein busquer ist ein Suchender, der seine persönliche Richtung erst noch finden muss, genau wie ein Schiff seinen Kurs«, erklärte die Ältere. Für sie war Jack nicht mehr als ein Störfaktor, ein winziges Sandkorn, das das Auge reizte.
    Wie eine Lehrerin forderte Ellen ihn mit einer Geste auf, den Damen seinen Broterwerb zu erklären. Und das brachte ihn so in Rage, dass Ellen ihm einen Moment lang völlig zuwider war. »Ich bin Schausteller«, sagte er schließlich. »Ich führe Zaubertricks vor und jongliere.«
    »Und zahlt sich das aus?«, fragte die Rothaarige.
    »Manchmal schon. Gelegentlich schaffe ich’s rechtzeitig auf die Bank.«
    Sie erwiderten sein Lächeln nicht, allerdings zuckten die Lippen der Rothaarigen. Und was findet Ellen an dir?, schien sie zu fragen. Was findet sie nur an einem so mageren jungen Kerl!
    Die Ältere riss die Augen hinter den dicken Brillengläsern weit auf und blickte um den Tisch herum. »Könnten Sie uns ein Kunststück vorführen?«
    Sofort nahm Jack die Ruhestellung eines Tänzers ein und beugte den Kopf wie zum Gebet. Hob die Hände, legte Zeigefinger an Daumen, als wollte er mit Kastagnetten klappern. Die Damen sahen ihm einige Sekunden lang voller Spannung zu. Schließlich scharrte die Frau, die er für lesbisch hielt, mit den Füßen und hüstelte.
    Jack hob das Kinn und sah Ellen an. »Ich führe keine Kunststücke vor«, erklärte er. »Ich bringe die Welt zum Tanzen.«
    »Erzähl uns, wie du das anstellst, Jack«, murmelte Ellen.
    Alle drei Frauen sahen sich mit geblähten Nasenflügeln im Zimmer um und wirkten dabei wie Löwinnen, die Blut gerochen haben. Diese Art von Aufmerksamkeit gefiel Jack ganz und gar nicht. Seine Geduld war erschöpft.
    »Es reicht«, sagte er. »Nochmals vielen Dank, aber meine Vorführung ist zu Ende. Und hier ist mein Kunststück .«
    Eine Zehntelsekunde – eine kaum merkliche Zeitspanne – lang senkte sich eine jegliche Geräusche dämpfende Decke über das Zimmer, als hätten sich alle Oropax in die Ohren gestopft. Der Kronleuchter aus Kristall begann zu wackeln, und die sechs elektrischen Kerzen verglühten zischend.
    »Ich würde gern fragen …«, setzte die Rothaarige an, doch Jack deutete mit hochgezogener Braue nach draußen, so dass sie den Blick zum Fenster wandte. In diesem Moment prallten
auf der engen Straße vor Ellens Haus zwei Wagen aufeinander, und es krachte laut. Die Wände bebten. Alle drei Damen fuhren zusammen und stießen Schreckensschreie aus.
    »War das Donner?«, fragte die Rothaarige.
    Ellen eilte zur Haustür. Für den Augenblick war Jack vergessen. Er schob sich durch die Küchentür, schnappte sich die Ratten, die sich flach auf den Boden gepresst hatten, und flüchtete über die Veranda.
    Während er in die Pedale trat und durch die finstere Seitengasse radelte, spürte er, wie sich, wie so oft, seine Schultern verspannten. Das hätte Ellen nicht tun dürfen: Die Art, wie sie ihn vorgeführt hatte, ging über einen kleinen Schabernack weit hinaus. Es war brutal gewesen. So brutal, als hätte man Wendy just in dem Moment mit Peter Pan bekannt gemacht, in dem sie die Hoffnung auf das Fliegen für immer hatte stecken müssen.

Weitere Kostenlose Bücher