Die Stadt am Ende der Zeit
Noch schlimmer war, dass er sich bei der Suche nach einem Ausweg aus dieser grässlichen Situation so weit von seiner überschaubaren Weltlinie wegbewegt hatte, dass er womöglich Tage brauchen würde, um zurückzuspringen.
Und wer wusste schon, was in dieser Zeit passieren konnte?
Während Jack im Leerlauf einen Hügel hinuntersauste, fühlte er sich überaus verletzlich und völlig ungeschützt.
15
First Avenue South
An diesem Abend aßen Ginny und Bidewell thailändische Gerichte, die ihnen der Lieferservice des Restaurants ins Haus gebracht hatte. (Dennoch bezeichnete Bidewell es hartnäckig als »Essen zum Mitnehmen«). Bidewell kochte nur selten und hatte auch keine richtige Küche, nur eine Kochplatte und einen Kanonenofen, auf dem stets ein Teekessel siedete. Und im Kühlschrank befanden sich nie mehr als Weißwein, Katzenfutter und Milch für den Tee.
Bidewell konnte sehr geschickt mit Stäbchen umgehen, da er mehrere Jahre in China verbracht hatte, wie Ginny von ihm wusste. Er hatte dort nach bestimmten buddhistischen Texten Ausschau gehalten und in irgendeinem Krieg versucht, japanischen Soldaten zu entkommen. Allerdings hatte Ginny ihm nicht genau zugehört.
Plötzlich war aus dem Hauptlager ein dumpfer Schlag zu hören, der eine Lawine weiterer Geräusche auslöste: Ein Bücherstapel war umgefallen. Ginny deutete mit ihren Stäbchen hinüber: »Ihre Katzen?«
»Minimus ist der Einzige, der sich für meine Bücher interessiert. «
»Im Unterschied zu mir«, frotzelte Ginny. »Offenbar streunen die Katzen überall herum, ganz nach Lust und Laune.«
»Nein, all meine schönen Smintheus-Diener bleiben stets hier. Genau wie ich. Das Lagerhaus ist alles, was sie brauchen.«
»Smintheus-Diener?«
Bidewell schob ihr ein Lexikon für Alte Sprachen zu. »Homer. Ilias. Schlag’s nach.«
Während Bidewell die Pappteller und Schachteln wegräumte, fragte Ginny: »Warum erlauben Sie den Katzen – warum erlauben Sie Minimus –, ganze Bücherstapel umzuwerfen? Das könnte die Werke doch beschädigen.«
»Er beschädigt sie nicht. Manche Katzen reagieren empfindlich auf die Spinnen zwischen den Buchzeilen.« Er schloss die Rauchabzugsklappe des Kanonenofens, um das Feuer zu ersticken.
»Was, zum Teufel, soll das denn bedeuten?«, fragte sie Bidewell, der ihr den Rücken zuwandte. Über die Schulter lächelte er ihr zu. Gleich darauf verschwand er in seine Schlafgemächer, die hinter der Bibliothek mit dem warmen Ofen lagen.
An diesem Abend fand Ginny ein schmales braunes Bändchen auf ihrem Tisch, das einen eigenartigen Text enthielt.
Die Geschichte der Kopisten
Gegen Ende des achten Jahrhunderts gab es auf der Insel Iona der Inneren Hebriden vor der Küste Schottlands ein Kloster, das viele wertvolle Manuskripte der Antike vor den ungestümen Wellen der Geschichte schützte, die über Europa und Britannien hereinbrachen.
In der Abtei kopierten die Mönche Manuskripte, frischten die alten Farben auf und bereiteten sich auf den Tag vor, an dem sie die überlieferten Texte wieder auf andere Klöster, Burgen und Städte verteilen würden – und auf Universitäten. Denn selbst damals träumte man schon von Zentren der Literatur und Wissensvermittlung und hoffte darauf, dass
sie das Licht der Vergangenheit über einer in Dunkelheit begrabenen Welt erstrahlen lassen würden.
Innerhalb der Steinmauern hatten sie Kopierzimmer eingerichtet, die schwach von Talgkerzen, hier und da auch von Öllampen beleuchtet wurden. Dort erlernten die Novizen die getreue Wiedergabe uralter Manuskripte, die Mönche und andere Sammler aus der Alten Welt zusammengetragen hatten.
Irgendwann wurde hier auch die Buchkunst erfunden, die später die alten Schriftrollen ersetzen sollte, denn die gebundenen Werke waren leichter zu lesen und zu handhaben, außerdem auch haltbarer.
In ganz Europa galten die Kopierzimmer dieses Klosters als die Werkstätten, in denen mit höchster Werktreue und größter Genauigkeit gearbeitet wurde. Als die Novizen älter wurden und sich zu Experten entwickelten, wurden sie weit über die Grenzen des Klosters hinaus bekannt, und das machte sie stolz. Und dieser Stolz, so will es die Legende, nahm die Form einer Spinne an, die den Kopisten während eines überaus kalten Winters ständig zu schaffen machte. Es war so kalt, dass die Mönche Handschuhe tragen mussten, um Pinsel und Feder führen zu können, und die in ihren Fässern erstarrende Tinte mit Kerzen flüssig gehalten wurde. Die
Weitere Kostenlose Bücher