Die Stadt am Ende der Zeit
akribischen Striche der Mönche gefroren auf den Blättern, ehe sie überhaupt trocknen konnten. (Tatsächlich sind in diesen Manuskripten bis heute Buchstaben mit besonderem Glanz zu finden: Zeichen aus gefriergetrockneter Tinte.) Es mangelte an Brennmaterial; weder Büsche, Holz oder trockener Seetang noch Kohle vom Festland oder Viehdung von der Insel reichten aus, um das Kloster zu beheizen.
Wie die Kopisten dem Abt mitteilten, tauchte trotz der Kälte plötzlich eine Spinne auf, die sich zuerst als beweglicher Fleck in den schreibmüden Augen der Mönche bemerkbar machte. Aus den Augenwinkeln heraus sahen sie, wie irgendetwas nicht deutlich Umrissenes über die Seiten huschte und Tintenspuren hinterließ. In die Abschriften schlichen sich Fehler ein, denn die gespenstische Erscheinung lenkte die Mönche ab. Und weder ein gründliches Durchfegen noch der himmlische Segen konnten diesem Missstand abhelfen.
Es dauerte nicht lange, bis die Spinne dreist wurde und sich in aller Gemütsruhe auf dem Pergament niederließ. Versuchte man sie zur Seite zu schieben oder mit einem Pulverbeutel nach ihr zu schlagen, hob sie die Vorderbeine und streckte zur Verteidigung die Fühler aus. Stets verschwand sie, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen, um sogleich auf einer anderen Seite, auf einem anderen Kopierpult wieder aufzutauchen.
Wochenlang verfolgte dieser unheimliche Plagegeist (der auch ein natürliches Ärgernis sein mochte, niemand konnte es mit Sicherheit sagen) die Mönche und brachte sie völlig durcheinander. Manche behaupteten, es sei ein heidnischer Geist, ausgeschickt, um sie mit dem Fluch des Teufels zu belegen und noch mehr Irrungen und Wirrungen in diese mit Sünde geschlagene Welt zu bringen.
Selbst diejenigen, die gewöhnlich zur Skepsis neigten, mochten kaum glauben, dass ein so winziges Geschöpf die Eiseskälte überlebt hätte, wäre es nicht mit dem Teufel im Bunde gewesen. Wobei den Mönchen die Höllenfeuer als beinahe verlockende Perspektive erschienen, jedenfalls bis zum Ende dieses schrecklichen Winters.
An der Situation änderte sich nichts, bis die Heide ihre verdorrten Blüten abwarf und grüne und rote Blattknospen an Büschen und Bäumen sprossen. Inzwischen war es Februar, und der harte Inselwinter ging mit Regen und Sturm flugs in einen wunderbar sonnigen Frühling über.
Die Mönche legten eine Arbeitspause ein und sammelten Seetang an den weißen Stränden, um damit ihre Gärten und kleinen Ackerparzellen zu düngen. Sanfte Brisen wehten durch die Abtei und drängten die Kälte aus dem alten Gemäuer und der feuchten Erde. Frisches grünes Gras schoss empor, und während Kälbchen und Lämmer geboren wurden, nahmen die Mönche ihre Arbeit wieder auf und stellten dazu Velinpapier und feines Pergament her. Die im Winter gefertigten Abschriften brachten sie ins Freie und setzten sie der Luft aus, damit die Feuchtigkeit daraus entwich und sich kein Schimmel bildete. Mit liebevollem Blick prüfte der Abt sie bei hellem Tageslicht im Garten der Abtei. Seine Augen waren zwar schwach, doch er achtete sorgfältig auf jede Abweichung, jeden Fehler und alles, was gegenwärtige oder zukünftige Kunden nicht hinnehmen würden. (Im steinernen Turm der Abtei lagerten viele Bücher, die schon auf die künftige Nachfrage einer wiedergeborenen Welt warteten.)
Und so war es der Abt, der als Erster entdeckte, dass eine Abschrift innerhalb einer ganzen Serie von Manuskripten eine Seite enthielt, auf der am Rand nachlässig hingekritzelte, holperig gereimte Gedichtzeilen standen, die dort keineswegs hingehörten:
Dadideldum –
ein Butzemann geht um.
Man sieht ihn verweilen
zwischen den Zeilen.
Acht Augen, acht Beine zeichnen ihn aus,
ist in allen Schriften zu Haus.
Hat er ein Buch einmal heimgesucht,
schlägt er die Buchstaben in die Flucht.
Sorgt dafür, dass die Tinte verschmiert,
bis trostlose Asche das Wolfsauge gebiert.
Drei wissen, was im roten Auge wohnt.
Sie haben dieses Geschöpf verschont.
Aus Wort wird so Fleisch und Wiedergeburt.
Die Fünf, die verschollen, erscheinen am Ort.
Der Abt befahl, diese abscheulichen Zeilen mit Bimsstein auszumerzen, doch es dauerte nur Stunden, bis die Tinte wieder durchkam und diese Beleidigung für das Auge erneut auf der Seite auftauchte. Der Meister der Kopisten schnitt die Seite heraus, brachte sie zum Abfallhaufen vor den Klostermauern, verbrannte das anstößige Pergament und intonierte dabei exorzistische Gebete. Danach streute
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