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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Augen. Sie wollten sich nicht drehen und auch nicht zusammenfügen lassen. Zwei identische Steine in einem Puzzle.
    Er legte das Duplikat in dessen Kästchen zurück, schloss es, verstaute es wieder im Pappkarton und schob Grangers Papiere darüber. Besser, nur einen Stein mit sich herumzuschleppen und den anderen zu verstecken – für den Notfall.
     
    Das ständige Summen und Rauschen der Verkehrsader, die hinter der nördlichen Hausecke verlief, hätte eigentlich beruhigend klingen müssen, so wie ein tosender Wildwasserbach nach der Schneeschmelze ein wunderbares Hintergrundgeräusch bieten kann, doch Daniel fand keine innere Ruhe. Schlaflos wälzte er sich auf dem zerrissenen Schlafsack hin und
her, den er im hinteren Zimmer mitten auf dem Holzfußboden ausgebreitet hatte. Kleine, prickelnde Stromstöße jagten durch seinen Körper, als wäre sein Herz mit dem zerfaserten Ende eines Schwachstromkabels verbunden. Ständig tauchten irgendwelche Dinge in seiner Erinnerung auf, unglaubliche Dinge, die er unmöglich persönlich erlebt haben konnte. Jeder kleine Stromstoß hatte eine ganz eigene Ladung, vermittelte das Gefühl eines persönlichen Verlusts, das Daniel noch mehr schwächte und verwirrte.
    Selbst vor seiner Ankunft in diesem Körper hatte er sich oft so gefühlt, als wäre er ein Knoten, in dem sich alle losen Enden der Zeit miteinander verbanden. Allzu viel lastete auf seinen Schultern.
    Die Zeit bewegt sich nicht wie ein Punkt vorwärts; vielmehr läuft sie wie ein Pinselstrich aus, was eine Minute, eine Stunde oder eine Woche dauern kann, manchmal auch einen Monat. Und dieser aus Schicksalsfäden zusammengefügte Pinsel malt für jeden Menschen ein anderes Bild.
    Das Wissen darum verschaffte Daniel einen Vorteil: Über die Länge einer Stunde, einer Woche, eines Monats hinweg ahnte er seinen Weg voraus. Du siehst etwas Unangenehmes im Anmarsch? Dann biege links statt rechts ab, suche eine Tür, die offen statt versperrt ist, weiche dem Unglück aus. Und falls sich etwas abzeichnet, das unvermeidbar erscheint, tauche in eine sehr nahe, aber leicht verzerrte und ein klein wenig verbesserte Welt ab. Greife nach einem Schicksalsfaden, der dich in dieser Hinsicht nicht behindert.
    Bis jetzt hatte er es stets so gehalten. Hatte sich mit geschlossenen Augen von einem Geschick ins nächste, möglichst bessere, begeben und mit aller Kraft aus der früheren Situation
gelöst. Und immer war es ihm gelungen, in Versionen seines Selbst zu schlüpfen, die nur so geringfügig anders waren, dass niemandem die Veränderung auffiel – ein seltsamer Kuckuck, der in Nestern landete, in denen ausnahmslos schon andere Kuckucke nisteten.
    Nie blieb Daniel besonders lange an einem Schicksalsfaden hängen. Schon früh hatte er mit dem Auslöschen anderer Existenzen begonnen und sie dem eigenen Geschick zuliebe geopfert, so sehr zum Äußersten entschlossen, als müsste er noch viele weitere Chancen nutzen, um dort hinzugelangen, wo er sein musste, und das zu tun, was er tun musste. Vielleicht war es dieser vielfache Verrat an anderen Menschen gewesen – diese Morde , wie man sie im übertragenen Sinn nennen musste –, die ihn so heruntergezogen, mitten in die entsetzliche Schweigende Gesellschaft geschleudert und an diesem kranken, zerstörten Gestade hatten stranden lassen, das von so vielen weiteren verrottenden Welten umgeben war.
    Ein unendlicher Vorrat von Fortune war durch seine Hände geglitten, doch jetzt war diese Quelle offenbar aufgebraucht. Manchmal fragte er sich, ob er womöglich das ganze Universum auf dem Gewissen hatte.
    Aber nein. Da draußen gab es Schlimmeres als Daniel Patrick Iremonk, und es lauerte nur darauf, ins Innere einzudringen.
     
    Vielleicht waren die rätselhaften Kästchen schon die ganze Zeit über hier gewesen, unbewacht, und Granger hatte sie gefunden, aber nicht gewusst, was sie darstellten oder beinhalteten.
    Als Hirte schlecht gewählt.
    In einer Ecke der Küche hatte sich eine ganze Flaschenbatterie angesammelt: Night Train, Colt 45, Wild Irish Rose. Selbst
in Daniels Welt hatten solche Marken und Flaschen auf den Regalen kleiner Eckkneipen gestanden – anrüchige Symbole fortwährenden menschlichen Kummers und menschlicher Fehltritte. Billigen Fusel gab es in allen Welten …
    Daniels Gedanken rasten so schnell, wie es dieses Hirn überhaupt zuließ. Eine träge graue Masse, die durch jahrelangen Alkohol- und Drogenmissbrauch und Krankheit vergiftet war. Er dachte an die

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