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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Retrokausalität spekuliert. Nach seiner Theorie griffen Partikel in die Vergangenheit zurück, um ihren gegenwärtigen Zustand mit der Vergangenheit in Resonanz zu bringen. Genau das vollzog sich innerhalb seines grauen Kästchens, das konnte Daniel spüren, auch wenn er keine Ahnung hatte, was es bedeutete.
    Als er älter und ein bisschen weiser war (inzwischen wusste er, dass man nicht in die Vergangenheit springen konnte, um sich die Jugend zu erhalten, und schon gar nicht in die Zukunft – nur »zur Seite«, »nach oben« oder »nach unten«), betrachtete er sich als eine Art Athlet und fragte sich: Wie oft werde ich springen können? Und wie weit? Und mit wie großer Zielorientierung und Zielgenauigkeit? Wie kann ich meine Situation am wirksamsten verbessern? Und welche Messlatten werde ich erreichen, sofern es Geld und Liebe betrifft?
    Das stürzte ihn in ein frustrierendes Dilemma. Denn als er versuchte, schnell zu Geld zu kommen, stellte er bald fest, dass bessere Lebensumstände keine Nachlässigkeit dulden, sondern verstärkte persönliche Anstrengungen erfordern. Und er konnte nicht gut mit Geld umgehen, schon gar nicht mit großen Summen. Das war ein Grundzug seines Charakters.
    Also versuchte er, sein Leben auf Kosten anderer zu bereichern, indem er beim »Springen« auf Beutezug ging. (War das nicht immer schon sein besonderes Talent gewesen? Er hatte es so oft erlebt: Daniel hat diesmal besser abgeschnitten, während Joe Blow zurückgefallen ist. Bis zu Daniels Sprung hatte Joe gleichmäßig gute Leistungen gezeigt. Allerdings hatte Daniel keinen stichhaltigen Beweis dafür finden können, dass Joes Leistungsabfall mit dem eigenen Sprung zu tun hatte. Und vielleicht wollte er es auch gar nicht so genau wissen.)
    Niemals war er absichtlich grausam gewesen. Es machte ihm keinen Spaß, andere Menschen zu verletzen. Er war lediglich ein Mensch mit einem nervösen Tick, beherrscht von dem Drang, sein Glück zu machen, hatte jedoch kein Händchen für ausgefeilte Pläne, keinen opportunistischen Sinn dafür, sein Leben in vielversprechende Bahnen zu lenken. Vielleicht bin ich noch viel durchgeknallter als der arme, kranke, ausgemergelte Charles Granger. Schließlich hab ich ihn aus seinem Körper verdrängt.
    Right out o’ his skin.
    Bald würde er einen weiteren Sprung tun müssen. Doch wie sollte er das anstellen? Er wusste ja nicht einmal, wie er im Körper von Granger gelandet war. Wusste nur, dass sie verschiedene Versionen desselben Hauses bewohnten und die gleichen Steine bei sich aufbewahrten.
    Nie hatte er sich so isoliert gefühlt wie an der Straßenecke, als er die Autofahrer angestarrt hatte. Selbst in den schlimmsten Zeiten nicht, in jenen letzten Tagen, als die Dunkelheit ihn einzuschließen begann. Er musste aus sich herausgehen, den Puls und die Stimmung wirklicher Menschen mit wirklichen Gefühlen ertasten.
    In dieser Nacht fühlte er sich einsam, entsetzlich einsam. Das Alleinsein kam ihm weniger verlockend vor als je zuvor, denn jetzt war er sich über zwei Dinge im Klaren: Diese Welt steuerte auf ihr Ende zu. Und dieser Körper lag im Sterben.

14
Capitol Hill
    Als Jack zurückkehrte, hatte Ellen Crowe Gäste. Das Klirren von Weingläsern und weibliche Stimmen im Esszimmer verrieten ihm, dass Ellens Literaturzirkel tagte. Sie nannten sich die Hexen von Eastlake.
    Er blickte auf die Karte mit der Einladung: Er hatte völlig vergessen, dass sie für heute Abend galt. So leise wie möglich öffnete Jack das Garagentor. Er stand gerade auf der Trittleiter, um den Käfig mit den Ratten herunterzuholen, als Ellen auf der hinteren Veranda erschien. »He, Fremder, sei nicht so schüchtern. Hast du Hunger?«, rief sie ihm zu.
    Während Jack sich auf den Weg zum Haus machte, hoben seine Ratten schnuppernd die Nasen in die Luft, die nach Essen roch. »Deinen Freundinnen gefällt es bestimmt nicht, wenn ich einfach so hereinplatze«, erwiderte er.
    »Immerhin ist es mein Haus.«
    Er schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Da er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, war er wirklich ausgehungert, und Ellen kochte gut.
    Während Ellen ein Blech mit Brathähnchen aus dem Backofen des schwarzen Gasherds (Edeldesign, rundum verchromt)
holte, nahm Jack auf einem hohen Küchenhocker Platz. Die Hähnchen rochen so köstlich, dass sich die Ratten mit zuckenden Näschen an den vorderen Rand des Käfigs drängten. Sie spießte eines der Hähnchen auf eine Gabel und legte es auf einen Teller, der auf

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