Die Stadt am Ende der Zeit
Scheitelpunkt, an dem die Fassadenwand mit der Befeuchtungswand zusammentraf, befand sich ein Amphitheater, das früher dreißig- oder vierzigtausend Besuchern Platz geboten hatte. Als Grünschnabel war Jebrassy zweimal hier gewesen, um seine Tapferkeit, zumindest aber sein Durchhaltevermögen unter Beweis zu stellen. Damals war er auf das Geröll geklettert, den wenigen Wächtern ausgewichen, die hier noch Dienst taten, und hatte sich durch die schmutzverkrusteten Mittel- und Aufgänge den Weg zum obersten Rang gebahnt. Diese Empore war ein überdachtes Labyrinth, das sich über mehrere Hundert Meter bis zur Proszeniumsloge erstreckte.
An mehreren Stellen der Empore war das Dach eingestürzt, so dass man dort einen freien Blick auf die Diurne hatte. Während Jebrassy sich wie damals durch das steinerne Labyrinth arbeitete, verlor er sich wieder einmal in Mutmaßungen über diesen Ort. Vielleicht hatten hier früher Initiationsrituale stattgefunden. Bestimmt gehörte das Labyrinth nicht zur ursprünglichen Anlage. Schon bei seinem ersten Besuch hatte er das Rätsel dieses Labyrinths ohne viel Mühe lösen können: Es verlief im Gegenuhrzeigersinn; zwar nahmen die äußeren Ränder überall überraschende Wendungen, aber wegen des langjährigen Zerfalls konnte man hindurchspähen.
Will die Flamme damit meine Entschlusskraft auf die Probe stellen? Ist doch ein Kinderspiel!
Er folgte dem Weg, den er schon in seiner Kindheit genommen hatte, denn er konnte sich immer noch deutlich daran erinnern: Schließlich gräbt sich jedes Abenteuer, wie enttäuschend
es auch ausgehen mag, tief ins Gedächtnis. Schließlich gelangte er zu einem riesigen Loch in der Überdachung und wurde mit einem unverstellten Blick auf die Schallmauer belohnt – eine Bezeichnung, mit der er nichts anfangen konnte. Es war eine fleckige graue Wand, mehrere Hundert Meter hoch, die bis auf die durch Erosion verursachten Löcher und Vertiefungen völlig glatt war. Möglich, dass die Vertiefungen früher große Objekte geborgen hatten.
Nachdem er noch einige Minuten weitergegangen war und die letzten Hindernisse der Empore überwunden hatte, kam er am Fuß der Schallmauer an. Von hier aus war es nur noch ein Klacks, bis er in den unermesslich großen schimmernden Schatten der gewölbten Lichtwand eintauchte.
Jebrassy nahm sich einen Augenblick Zeit, um wieder zu Atem zu kommen. Der riesige Schirm der Lichtwand war von oben bis unten mit Staub und einem dunklen Belag überzogen. Der Belag war kein Ruß, er rührte nicht von Rauch her, sondern von den Ausdünstungen vieler Tausend Generationen von Lebewesen. Auf der anderen Seite befand sich eine kunstvoll verzierte, aber teilweise zerfallene Trennwand aus Steinen und Mauerwerk, deren höchste Überreste immer noch mehrere Hundert Meter über die Empore hinausragten. Die Trümmer waren auf die Proszeniumsloge und den untersten Rang des Amphitheaters gestürzt, dessen Sitze schon vor langer Zeit entfernt worden, vielleicht auch verfault waren. Sicher hatten schon viele der alten Art vor ihm versucht, das Rätsel dieses Ortes zu lösen oder ihn für eigene Zwecke zu nutzen, indem sie sich hier als Steinmetzen betätigt hatten. Genau wie die ursprünglichen Bauten waren auch die jüngeren mittlerweile zerfallen. Schlimm genug, doch noch mehr machte Jebrassy der
Gedanke zu schaffen, dass es eigentlich nicht viel Mühe kosten konnte, die Schirmwand zu reinigen, die Sitze in den Rängen zu reparieren oder zu ersetzen und den ursprünglichen Bau zumindest oberflächlich zu restaurieren. Dennoch tat es niemand, denn keiner der heute Lebenden besaß die Hartnäckigkeit und den Einfallsreichtum derjenigen, die die Lichtwand einst geschaffen hatten.
Wer waren sie? Hochgewachsene?
»Ich weiß es nicht«, murmelte Jebrassy als Antwort auf die leise Frage des Besuchers. »Halt den Mund.«
Hoch über dem Amphitheater fuhr in der Ferne eine Brise durch die Röhren der vier Spiraltürme und erzeugte Töne, die wie das unterdrückte Kichern von Hunderten belustigter Stimmen klangen.
Die Diurne selbst befanden sich unmittelbar links von der Schirmwand – drei miteinander verschränkte Ellipsen, jede mit einem Durchmesser von mehr als hundert Metern, auf denen gelegentlich immer noch irgendwelche Darstellungen auftauchten. Angeblich zeigten sie die Zeit an, aber in einer Art und Weise, die keiner der Lebenden entschlüsseln konnte, selbst wenn es jemand geschafft hätte, die ständig wechselnden verstümmelten
Weitere Kostenlose Bücher