Die Stadt am Ende der Zeit
musst?«
»Niemand hat mir das je beigebracht«, erwiderte Jebrassy unnötig laut.
Draußen ebbte der Marktlärm nach und nach ab. Jebrassy vernahm klagendes Geheul: Ein hungriges Weidepede zerrte in seiner Box an den Haltegurten und forderte seine frühabendliche Mahlzeit aus Getreideähren und Süßwasser ein.
Die Sama stülpte die breiten Lippen vor, ließ sich zurückfallen und atmete tief und seufzend aus. Er dachte, sein Besuch sei damit beendet, doch sie zog die Vorhänge noch nicht auf.
»Ich gehe jetzt«, sagte er.
»Still«, befahl sie. »Meine Beine schmerzen. Ich bin verbraucht, junger Freund. Wird nicht mehr lange dauern, bis mich der Düstere Aufseher holt. Bleib noch ein bisschen – mir zuliebe.«
Sie klopfte auf den Boden. »Ich bin noch nicht fertig mit meiner Befragung. Was hat dich zu einer armen alten Sama getrieben? «
Jebrassy setzte sich wieder und blickte peinlich berührt zum Strohdach hinauf. »Diese Flamme … Falls ich mich irgendwann für sie interessiere und sie sich für mich … ist das nicht gut. Sie hat Paten, ich habe keine.«
»Hast du sie angesprochen?«
»Nein.«
Die Sama zog ein kleines Säckchen mit getrocknetem rotem Süßpulver aus ihrem Gewand und umwickelte es mit einer Hanffaser, damit Jebrassy es wie einen Aufgussbeutel in heißes Wasser tunken konnte. »Trink das, es wird dich entspannen. Wenn du herumgeisterst, mach dir hinterher Notizen. Hast du ein Schütteltuch?«
»Ich kann mir eins besorgen.«
»Ah – du meinst stehlen. Borg dir lieber eins von deinem Freund, falls er eins besitzt, oder von der Flamme, falls du sie wiedersiehst. Schreib alles auf, und dann komm zurück und zeig es mir.«
»Warum?«
»Weil wir beide wissen müssen, welche Fragen zu stellen sind.« Die Sama stand auf, zog die Vorhänge auf und ließ das schwindende graue Licht des künstlichen Himmels hinein. Der Markt war geschlossen, der Platz fast leer. »Vielleicht ähneln Träume Schütteltüchern. Wenn man träumt, löscht man alle Wörter aus, die nicht die ureigenen sind. Für heute sind wir fertig, junger Krieger.« Sie schob ihn aus ihrer Bude.
Eine noch sehr junge Flamme in Schnürstiefelchen – sie hatte wohl gerade erst den Hort verlassen, wie eine winzige
rote Stelle an ihrer Stirn verriet – stand vor einer geschlossenen Bude und fütterte ein hungriges Pede. Das Pede wand seine glänzenden schwarzen Glieder um ihre Fersen und zuckte mit den zahlreichen Beinen, die es besaß. Die Kleine drehte sich um und sah mit einem Ausdruck freudigen Entzückens zu Jebrassy hoch.
Er fasste sich an die Nase, um ihr mitzuteilen, dass er ihre Freude teilte.
Eine Gefährtin wählen, eine Nische erben oder zugewiesen bekommen, in stiller Zufriedenheit in den Ebenen wohnen, nicht auf Dinge achten, die man sowieso nicht verstehen konnte, die Patenschaft für ein neues Wesen übernehmen – warum sollte man mehr vom Leben verlangen?
Doch er hatte gesehen, wie sehr der jüngste Überfall die Wächter beunruhigte. Nichts von diesem herkömmlichen Leben würde noch lange Bestand haben, das spürte er bis in die Knochen.
Auf dem Weg zu den Diurnen blieb Jebrassy kurz stehen, spähte auf den Boden und kniete sich gleich darauf hin, um das Geröll am Wegesrand zu untersuchen. Bis jetzt hatte er nie viel über die Stoffe nachgedacht, aus denen seine Welt gemacht war. Er verglich den Schotter mit dem Material, das üblicherweise für die Brücken verwendet wurde, und fragte sich dabei, wie dieses Gestein sich von seinem Körper und von den Feldfrüchten unterschied. Und von dem wandlungsfähigen Stoff, aus dem die Wächter bestanden. Er hatte schon mehrfach Bekanntschaft mit diesem Stoff gemacht, wenn sie ihn bei dieser oder jener Rauferei von seinem Kontrahenten getrennt hatten.
Schotter, Feldfrüchte, fleischliche Körper waren aus ganz anderem Stoff als die freiliegenden silbergrauen Inseln unterhalb der Ebenen. Die Inseln waren weder warm noch kalt, und ihre silbergraue Substanz wies überhaupt keine besonderen Merkmale auf, wenn man sie berührte, was er seltsam fand. Und dennoch war es diese Substanz, die alles begründete: die Fundamente, die Mauern und wahrscheinlich auch den künstlichen Himmel – all das, was seine Welt umgrenzte.
Auch darüber wollte Jebrassy unbedingt mehr erfahren. Und in dieser Hinsicht unterschied er sich so sehr von fast allen Gefährten, die er kannte, dass er sich zuweilen fragte, ob bei seinem Eintritt in diese Welt ein Fehler passiert war. Hatten
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