Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Symbolreihen innerhalb der Ellipsen zu erfassen. Die einzige einleuchtende Theorie besagte, die Diurne hätten einmal einen riesigen Zeitmesser dargestellt, der mit einem noch größeren Bildschirm verbunden gewesen sei. Diesen Wandschirm habe man früher bei öffentlichen Zusammenkünften und Feiern eingesetzt, doch schon sehr lange nicht mehr benutzt.
    Rechts von den Diurnen blitzten auf der riesigen Lichtwand – sie war dreihundert Meter breit und hundertfünfzig
Meter hoch – immer noch schwache, schnell verlöschende Funken auf, Zufallsbilder, die sich in stündlichen Abständen wiederholten. Doch ständig setzten solche Störungen ein, dass nicht einmal mehr flackernde Punkte zu sehen waren, sondern der Schirm schwarz wurde. Soweit bekannt, hatten die Diurne schon in der Frühzeit der nachgezüchteten alten Art so ausgesehen.
    Jebrassy bog den Hals so weit wie möglich zurück, um die ganze Lichtwand zu erfassen, drehte sich danach rasch um und starrte so auf das Amphitheater, als wolle er einen Blick auf vierzigtausend Gespenster erhaschen – auf die Bürger, die hier früher einmal gesessen oder gestanden hatten, wie gebannt von diesem Ort, der einst ein wunderbarer Versammlungsraum gewesen sein musste. Sicher hatten sie sich hier ausgetauscht und einander Geschichten erzählt.
    Seine Annahme verfestigte sich, als er die Szenerie durch ältere und vermutlich klügere Augen in sich aufnahm: An diesem Ort hatte die Gemeinschaft Informationen und Klatsch ausgetauscht. Tausende hatten sich hier versammelt, hatten Anweisungen und Warnungen empfangen und vielleicht auch Berichte über das erhalten, was sich in den Ebenen tat. Über den Schirm waren Schlagzeilen und Bilder der Welt gelaufen, die jenseits der Kalpa lag und jetzt verleugnet wurde.
    Es war nur eine Mutmaßung, doch vieles sprach dafür.
    Die innere Stimme äußerte nichts dazu.
    Mit ihrem Schmutz und der Patina des Alters – beides war typisch für die verlassenen Bezirke hinter den Ebenen – vermittelten die Ruinen schon an sich eine bestimmte Botschaft. In Verbindung mit dem unsteten Aufflackern der Zeit, den Übergriffen des Chaos und dem Bevölkerungsschwund, der
allein schon an den unbewohnten Nischen und längst verlassenen Stadtteilen abzulesen war, bewies der Zerfall der Architektur, dass die Kalpa – egal, wie sie früher ausgesehen haben mochte – die Blüte ihrer Jahre jedenfalls hinter sich hatte.
    Die Hochgewachsenen wurden schwächer. Die lange Knebelung der alten Art würde vielleicht bald schon ein Ende finden. Dann würden alle, die wollten, unter der Rundwand hindurchschlüpfen können, durch die Hebewerke am Ausfluss der Hochwasserkanäle und unter den Bogen hindurch bis zu den Toren. Und danach würden sie die Grenze des Realen überqueren und in die endgültige Freiheit des Chaos gelangen.
    Ein schöner Traum.
    Während Jebrassy hierhin und dorthin stapfte, blickte er auf die nur schwach zu erkennenden verstümmelten Wörter. Das leise Schlurfen seiner Füße hallte mit unheilverkündenden Verzerrungen von den Mauern wider.
    Lauter Krach und Gepolter links von der Lichtwand meldeten, dass weiteres Mauerwerk eingestürzt war. Große Steinbrocken und Teile verrosteten Metalls rollten nach unten. Als sie gegenüber der Empore aufschlugen, stieg eine Staubwolke auf. Die ganze Szenerie und deren Umfeld lösten bei Jebrassy Wut und Frust aus. Das verloren gegangene Wissen, die versagenden Kommunikationssysteme, der trügerische Anschein, man wolle die Massen erziehen … Dazu passten auch die unechten Bücher. Sie verhöhnten jeden, der die verlassenen Gänge in den höheren Stockwerken der Ebenen durchkämmte. Endlose Reihen voller Bücher mit faszinierenden Titeln, soweit er sie lesen konnte. Aber keines dieser Bücher ließ sich herausnehmen. Seit der Kindheit hatte er es tausendmal versucht, doch die Bücher waren wie festgeschweißt, kalt, nutzlos.
    Falls wir Spielzeuge oder Instrumente sind, dachte er, interessiert sich kaum noch jemand sonderlich dafür, was wir tun oder denken. Vielleicht ist es denen sogar egal, ob wir leben oder sterben …
    Er drehte sich langsam um sich selbst, wie bei einem Tanz, lauschte auf das Echo und fasste sich gleich darauf an die Nase, weil er sich albern vorkam.
    Besser Albernheit als Langeweile und Sicherheit.
    »Hallo!«
    Die beiden Silben trieben nach oben und hallten mit unheimlichem Rauschen zurück. Als Jebrassy sich umwandte, sah er eine dunkle weibliche Gestalt am Rande der

Weitere Kostenlose Bücher