Die Stadt der gefallenen Engel
war in Ordnung.«
Lara spürte, dass er nicht darüber sprechen wollte. Zuerst wollte sie nachhaken, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich kannten sie einander noch kaum und vielleicht würde es einen anderen Zeitpunkt geben, um ihn danach zu fragen.
Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit und sie wandte den Kopf. »Schau mal, ein Reiher«, flüsterte sie und deutete auf die elegante Silhouette, die scheinbar schwerelos über den See schwebte. Am anderen Ufer angelangt, breitete der große Vogel seine Flügel aus und landete. Kurz darauf stakste er durch das hohe Schilf und pickte im trüben Wasser nach Futter.
»Ich dachte, sie wären alle längst zu ihrem Winterquartier aufgebrochen«, sagte Lara.
»Die Tage sind warm. Vielleicht wartet er noch, bevor er sich auf den langen Weg in den Süden macht.«
»Ja, es ist schön. Die Sonne tut gut nach all dem Regen.«
Und der Tag ist schön, weil ich ihn mit dir verbringen kann, dachte Lara. Heimlich betrachtete sie Damian aus den Augenwinkeln. Hatte sie sich nicht erst vor ein paar Tagen geschworen, dass sämtliche Jungs ihr gestohlen bleiben konnten? Aber Damian war anders. Ganz anders als die Jungs, die sie bisher kennengelernt hatte. Als sie an Ben dachte, versetzte es ihr einen kleinen Stich. Doch dann spürte sie Damians Arm, der wie zufällig den ihren streifte, roch seinen Duft und sofort ging es ihr besser. Sie wollte einfach die Zeit genießen, die sie mit ihm hier verbringen konnte. Und sie war so neugierig, was für ein Mensch er wirklich war. Sie hatte Lust darauf, Damian besser kennenzulernen.
»Gehst du noch zur Schule?«, fragte sie ihn.
»Kann man so sagen«, grinste er. »Vor einer Woche habe ich mit dem Studium begonnen – ich studiere Geschichte.«
»Mein Großvater war Professor für Geschichte, bevor er in Pension ging.«
»Ja, er hat es erwähnt. Er war Dozent an derselben Universität, an die ich jetzt gehe.«
»Was für ein Zufall.«
»Ist es denn so ungewöhnlich, Geschichte zu studieren?«
»Irgendwie schon«, meinte Lara. »Alle, die ich kenne, wollen sich nach dem Abi für BWL oder Jura oder Medizin einschreiben.«
»Dein Großvater hat mir erzählt, dass du zur Schule gehst und nächstes Jahr dein Abi machst und nur während der Herbstferien hier zu Besuch bist.«
»Mein Großvater hat anscheinend sehr viel erzählt.«
»Wo kommst du her?«
»Das Kaff kennt niemand.«
»Trotzdem.«
»Rottenbach in Baden-Württemberg.«
»Kenne ich wirklich nicht.«
»Da geht es dir wie sechs Milliarden anderer Menschen.«
»Ist es so schlimm dort?«
Lara zuckte mit den Achseln. »Nicht wirklich. Bloß sterbenslangweilig. Und du? Kommst du aus Berlin oder bist du wegen des Studiums hierher gezogen?«
»Ich bin ein waschechter Berliner.«
»Das hört man dir nicht an.«
»Meine Eltern stammen aus Ungarn. Ich hatte zu Hause genug Probleme damit, Deutsch ohne Akzent zu lernen, da hat es für einen Dialekt einfach nicht mehr gereicht.«
Sie stieß ihm spielerisch den Ellbogen in die Seite.
Damian stieß einen lauten Schmerzensschrei aus, fasste sich an die Rippen und sank auf die Knie.
Mist, wie konnte sie nur so gefühllos sein! Sie hatte ganz vergessen, dass er verletzt war. Sie bückte sich zu ihm herab und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich …«
Er wandte ihr das Gesicht zu und grinste sie breit an.
»Du hast mich verarscht!«, rief Lara empört. Sie trommelte lachend mit ihren Fäusten auf seinen Rücken. »Du blöder …«
Lachend sprang er auf und hielt ihre Hände fest.
»Du bist so ein …«
»Was?«, fragte er ruhig.
Sie blickte in seine hellen Augen und versank darin.
»… Idiot«, vervollständigte sie leise den Satz.
Sein Gesicht war dem ihren nah. Ganz nah. Sie konnte spüren, wie sein Atem über ihre Wangen strich. Seine Hände waren sanft geworden, ohne sie loszulassen. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, er würde sie an sich ziehen, sie vielleicht küssen, aber der Augenblick verging. Er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.
»Komm, wir gehen noch ein Stück«, sagte er ruhig.
9.
Was ist da eben geschehen?, fragte sich Lara, während sie schweigend neben Damian um den See lief. Er hätte mich beinahe geküsst. Ich … ich weiß nicht, ob ich das will. Es ist … noch zu früh. Wir kennen uns noch nicht richtig.
Und dennoch, Lara wusste, sie hätte es zugelassen. Sie musste sich eingestehen, dass es sie fast ein wenig enttäuschte, dass es
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