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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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jetzt Schluss mit dem Unfug und hol das Buch.«
    »Okay«, meinte Robert und zuckte mit den Achseln. »Dann eben das andere.«
    Lara musste ein Grinsen unterdrücken, als er hinter der Ladentheke verschwand, sich bückte und kurz darauf ein Buch in die Höhe hielt. »John Milton – Das verlorene Paradies.«
    Er reichte Lara das Buch. Es war eine gebundene Ausgabe, deren Schutzumschlag einen Engel mit Flügeln zeigte, der den Kopf beschämt abwandte und mit seiner Hand in die Ferne deutete.
    »Um was geht es in dem Buch?«, fragte Lara.
    Der alte Mann trat heran und legte eine Hand flach auf den Umschlag. »Es geht um Gott, die Menschen und den Fall der Engel, um den Kampf zwischen Satan und den Mächten des Himmels.«
    »Und so etwas liest mein Großvater? Ist das ein Roman?«
    »Nein, ein Epos, ein Gedicht, bestehend aus zehntausend Versen.«
    Lara schlug das Buch an einer willkürlichen Stelle auf und las:
     
    Bis Einer sich erhebt von stolzem Herzen,
    Der, unzufrieden mit der schönen Gleichheit,
    Sich unverdiente Herrschaß seiner Brüder
    Anmaßt und Eintracht, der Natur Gesetz,
    Vom Erdenraume ganz verdrängt und bannt.
    Er jagt mit Krieg (denn Menschen sind sein Wild)
    Und Kriegslist solche, welche sich nicht seiner
    Tyrannenherrschaft dienend unterwerfen.
    Man nennt ihn mächt’gen Jäger vor dem Herrn,
    Zum Trotz dem Himmel oder auch von ihm
    Die zweite Herrschaft fordernd; durch Empören Erringt er einen Namen sich, wiewohl
    Er Andre der Empörung schwer verklagt;
    Mit einem Schwarme Gleichgesinnter, die
    Mit ihm und unter ihm tyrannisch walten,
    Zieht er aus Eden westwärts, findet dort
    Die Fläche, wo ein schwarzer harz’ger Pfuhl
    Sich siedend öffnet als der Hölle Schlund.
     
    »Liest sich ein wenig merkwürdig«, meinte Lara und blickte fragend auf.
    »Oh nein, das tut es nicht«, widersprach ihr der Alte energisch und Lara zuckte angesichts seines barschen Tonfalls erschrocken zusammen. »Es liest sich wunderbar. Es ist eine Melodie, geschaffen für die Ewigkeit.«
    Lara begann, sich unwohl zu fühlen. Sie wusste nicht, warum, aber der Buchhändler und sein Enkelsohn wirkten keineswegs mehr so freundlich wie am Anfang. Jede Fröhlichkeit war aus ihren Gesichtern verschwunden und sie blickten sie ernst an, so als habe sie mit ihrem Kommentar einen großen Frevel begangen.
    Plötzlich war es in dem Laden stickig und Lara hatte Probleme, Luft zu bekommen. Sie warf einen unsicheren Blick auf das Buch, das sie noch immer in ihren Händen hielt, und als sie wieder aufblickte, sah sie in eine verzerrte Fratze. Robert Fischers Aussehen schien sich plötzlich verändert zu haben. Ein Knochenschädel pendelte auf einem dürren Hals. Sein Gesicht hatte die gesamte Haut verloren. Als er sie angrinste, bewegten sich nackte Muskeln und Sehnen. Rote Augen lagen tief in den Höhlen und glotzten sie an.
    Ein Würgen kroch in Laras Hals hoch. Panik erfasste sie und ihr Herz raste. Sie schloss für einen Moment die Augen. Das Blut rauschte in ihren Ohren und Lara schüttelte ruckartig den Kopf. Sie holte tief Luft und sah erneut auf.
    Alles war normal. Robert Fischer blickte sie verwundert an – ein harmloses Jungengesicht, das vollkommen gewöhnlich wirkte. Die Vision war verschwunden. Trotzdem, sie musste hier raus. Sofort!
    »Ich nehme das Buch«, ächzte Lara. »Was kostet es?«
    Der Buchhändler nannte einen Betrag, der unter zehn Euro lag. Lara zog ihren Geldbeutel aus der Jackentasche und legte mit zitternden Fingern einen Schein auf die Theke. Das Buch steckte sie in die Tüte zu den Kleidern.
    »Danke, Sie brauchen mir kein Wechselgeld zu geben«, sagte sie. »Einen schönen Tag noch.«
    Hastig verließ sie die Buchhandlung.

18.
    Gaval war ein guter Jäger. Seine Geschicklichkeit, scheinbar unsichtbar und völlig unbemerkt Dämonen oder Menschen zu verfolgen, wurde von den anderen Engeln bewundert. Er selbst bildete sich darauf nichts ein. Ihm war jede Eitelkeit fremd. Gabriel hatte ihm befohlen, das Mädchen aus sicherer Entfernung zu beobachten, und so verbarg er sich hinter einem hohen Schornstein, der auf dem Dach eines Hauses aus dem neunzehnten Jahrhundert stand. Der Wind zerrte an seinen langen Haaren und ließ den offenen Mantel flattern, aber er genoss das Gefühl, aus luftiger Höhe auf die Stadt hinabzusehen.
    Seit Lara die U-Bahn verlassen hatte, war er ihr über die Dächerzeilen gefolgt. Niemand hatte ihn bemerkt, wenn er mit weiten Sätzen, die für einen normalen Menschen unmöglich

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