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Die Stadt der gefallenen Engel

Die Stadt der gefallenen Engel

Titel: Die Stadt der gefallenen Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Wekwerth
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er auf jemanden, der im Laden ist, überlegte sie.
    Aber so verhielt er sich nicht. Männer, die warteten, gingen auf und ab, rauchten oder blickten ständig auf die Uhr. Seine Hände waren jedoch in der Jacke vergraben. Er stand einfach nur da und blickte zu ihr herüber.
    Ihr Erlebnis von letzter Nacht fiel ihr plötzlich wieder ein, die merkwürdigen Fratzen, die das Mondlicht ihr im Fensterglas vorgegaukelt hatte. Lara konzentrierte ihren Blick erneut auf das verschwommene Abbild des Mannes, der noch immer zu ihr herüberschaute. Sie überlegte, was sie tun sollte. Einfach über die Straße gehen und ihn ansprechen? Nein, das war vielleicht doch zu riskant und außerdem würde er wohl kaum zugeben, dass er sie anstarrte. Schließlich war es ja auch möglich, dass sie sich täuschte, und dann wäre es einfach nur peinlich. Vielleicht hatte er einen guten Grund, da zu stehen, vielleicht beobachtete er sie gar nicht und im nächsten Moment würde seine Freundin aus dem Laden kommen, ihm um den Hals fallen und berichten, was für ein schickes Teil sie gefunden hatte.
    Und doch war da diese Ahnung, die ihr zuflüsterte, dass es keine Freundin gab, sich die Ladentür nicht öffnen und niemand auf ihn zustürmen würde.
    Lara beschloss, erst mal in den Laden zu gehen. Sie würde dann ja sehen, ob der Mann ihr folgte oder ob er vor dem Geschäft wartete.
    Ein lautes Bimmeln erklang, als sie die Tür öffnete. Im Geschäft war es ziemlich dunkel; im Gegensatz zu den anderen Läden, in denen sie heute war, waren hier keine Neonlichter an den Decken. Lauter Gothic-Rock dröhnte aus versteckten Lautsprechern und Lara blickte sich neugierig um.
    Die Wände waren mit dämonischen Fratzen und Bildern bemalt worden. Schwarz, grau und düster starrten sie fremde Gottheiten und Teufel an. Dämonen feierten auf den Bildern bizarre Rituale.
    Abgefahren! ,dachte Lara.
    Überall standen weibliche und männliche Schaufensterpuppen herum, deren bleichen Körpern oftmals die Arme fehlten oder der Unterkörper. Manche Gesichter waren hinter schwarzen Masken verborgen.
    Total abgefahren!
    Das war mit Sicherheit der ungewöhnlichste Laden, den Lara jemals betreten hatte. Wohin das Auge fiel, sah man Leder, Lack, Chrom, Ketten und dunkles Eisen.
    Als sie durch den Laden schritt, wurde eine Verkäuferin auf sie aufmerksam. Die junge Frau trug enge schwarze Lederhosen und ein schwarzes T-Shirt, das einen Großteil des bleichen Bauches freiließ. Lara blickte in dunkle Augen, die von dick aufgetragenem Kajal umrandet waren. Die Lippen waren gleich mehrfach gepierct. In den Ohren steckten glänzende Chromstifte. Die Verkäuferin wedelte mit überlangen schwarz lackierten Fingernägeln und fragte Lara, ob sie ihr helfen könne.
    »Ich suche einen Lederrock und ein passendes Oberteil dazu«, sagte Lara selbstsicher. »Dazu vielleicht schwarze Stiefel bis zum Knie.«
    »Okay.« Nur ein Wort, aber die Frau schaffte es, höflich und gelangweilt zugleich zu klingen. »Hinten im Laden haben wir was.« Die schwarzen Fingernägel deuteten in die entsprechende Richtung. »Willst du dich erst einmal umschauen oder …«
    Oh, da hat aber jemand richtig Lust zu arbeiten, lächelte Lara stumm in sich hinein. »Ich komme schon klar.«
    Befriedigt zog sich die Verkäuferin hinter die Verkaufstheke zurück und begann, mit einer gleichaltrigen Frau zu plaudern, die ihr Klon hätte sein können. Genauso bleich, genauso düster.
    Wahrscheinlich ihre Zwillingsschwester, lästerte Lara in Gedanken. Als Säuglinge wurden sie vor dem Laden ausgesetzt und der Besitzer hat sie großgezogen. Bestimmt haben sie noch nie Tageslicht gesehen, und wenn sie zur Fensterscheibe rausglotzen, fragen sie sich, was das große gelbe Ding da am Himmel macht.
    Lara grinste bei ihren fiesen Gedanken, aber als ihr Blick dabei zum Schaufenster glitt, musste sie wieder an den Mann vor der Tür denken. Angestrengt schaute sie durch die Glasscheibe.
    Die gegenüberliegende Straßenseite war leer.
    Der Mann war verschwunden.
    Ich habe mich doch getäuscht, dachte sie erleichtert und begann, sich durch die Kleiderständer zu wühlen.
     
    Der Mann war nicht verschwunden, er war weitergegangen und in eine Seitenstraße abgebogen. Dort traf er auf eine Gestalt, die sich im Eingang eines Mietshauses verborgen hielt.
    »Ist sie allein?«, fragte der Wartende.
    »Ja, ich habe niemanden gesehen. Auch keine Wächter.«
    »Hat sie dich entdeckt?«
    »Sie hat mich in der Glasscheibe des Ladens

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