Die Stadt der gefallenen Engel
aber als er vorsichtig seine Hand nach ihr ausstreckte, war es schon zu spät. Lara hatte ihre Hand zurückgezogen und in den Schoß gelegt.
Damian seufzte stumm und griff nach der Kaffeetasse.
Lara sah, wie er die Hand ausstreckte, und für einen Augenblick schien es, als wolle er nach ihrer Hand greifen – gera de in dem Augenblick, als sie die Hand vom Tisch nahm. Aber sie hatte sich getäuscht, denn er zog nur die Kaffeetasse heran.
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und so lastete das Schweigen auf ihnen. Lara blickte sich im Bistro um, während Damian auch weiterhin nur still auf den Tisch sah. In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Karussell: ihre merkwürdigen Visionen, ihre Wutanfälle, ihre Mutter, Ben – und dazwischen Damian. Immer wieder Damian. Sie saß ihm gegenüber und doch schien er so unendlich weit entfernt zu sein.
Ein Knoten bildete sich in Laras Magen und sie musste gegen die aufsteigenden Tränen anschlucken. Hatte sie etwas falsch gemacht? War er enttäuscht, dass sie den Abend kaputt gemacht hatte? Lara wollte so gerne mit Damian über alles reden, aber er schien in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen zu sein. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und sagte: »Damian, macht es dir etwas aus, mich nach Hause zu bringen? Ich habe meinen Großeltern versprochen, nicht zu spät zu kommen.«
Sein Kopf ruckte hoch, so als erwache er aus einem Traum. »Oh«, sagte er. »Natürlich. Warte, ich bezahle nur kurz.«
Er winkte dem Kellner und wischte ihren Einwand beiseite, dass sie ihre Getränke doch selbst bezahlen könne.
»Nein, lass mal. Du bist eingeladen.«
Der Kellner kam und Damian drückte ihm den geforderten Betrag plus ein ordentliches Trinkgeld in die Hand. Dann verließen sie das Bistro.
Draußen war es kühl geworden. Lara schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und klemmte sich die Hände unter die Achseln.
»Wir müssen dort lang«, meinte Damian.
Dann gingen sie schweigend zur U-Bahn-Station.
Ohne sich zu berühren.
23.
Als Lara das Haus betrat, merkte sie, dass sie Hunger hatte. Auf dem Weg zur Küche hörte sie die gedämpften Stimmen ihrer Großeltern aus der Bibliothek dringen. Weshalb waren sie so spät noch wach? Es war zwar erst kurz nach Mitternacht, aber normalerweise waren sie um diese Uhrzeit immer schon im Bett. Hatten sie vielleicht gewartet, bis sie nach Hause kam? Lara spürte, wie kalte Wut in ihr aufstieg. Ihre Großeltern waren ja schlimmer als ihre Mutter! Verärgert wollte sie schon weitergehen, als sie hörte, wie ihr Großvater etwas sagte, das sie dazu brachte, stehen zu bleiben und zu lauschen.
»… es besteht … Lara. Er hat versprochen, dass sie …«
Das Telefon klingelte.
Um diese Uhrzeit?
Lara trat näher.
»Hermsdorf«, meldete sich der Professor.
Er lauschte in den Hörer.
»Hallo, Rachel. Wir haben lange nichts von dir gehört.«
Seine Stimme klang kühl. Lara stand wie versteinert. Weshalb rief ihre Mutter mitten in der Nacht hier an?
»Ja, ihr geht es gut. Warum fragst du?«
Pause.
»Wir haben ihn kennengelernt. Ein netter junger Mann.«
Sie sprachen über Damian! Das durfte ja wohl nicht wahr sein! War ihre Mutter nun völlig durchgeknallt? Sie war am Telefon schon so komisch gewesen, als Lara ihr von Damian erzählt hatte. Aber dass sie nun sogar freiwillig bei ihren Eltern anrief …
»Stimmt. Er geht auf die Universität.« Pause. »Ich habe ihn dort mal getroffen, als er bei einem ehemaligen Kollegen im Büro saß und ich hereinplatzte, um ihn auf ein Bier abzuholen.«
Pause.
»Was hat das mit Michael zu tun?« Der Tonfall von Laras Großvater wurde immer gereizter.
Lara verstand überhaupt nichts mehr. Warum brachte ihre Mutter jetzt ihren Vater ins Spiel?
»Das ist Zufall. Reiner Zufall«, sagte der Professor und Lara fand, dass seine Stimme wie die eines Theaterschauspielers klang. »Hast du eine Ahnung, wie viele Studenten auf die Uni gehen?«
Pause.
»Nein, ich habe ihn ihr nicht vorgestellt. Sie sind sich zufällig im Park begegnet.« Pause. »Jetzt hör aber auf. Du siehst Gespenster, wo es keine gibt.«
Lara verstand einfach gar nichts mehr. Sie wusste nur, dass dieser Anruf absolut merkwürdig war, denn ihre Mutter vermied es, mit ihren Eltern zu sprechen. Außer an Geburtstagen oder an Weihnachten rief sie niemals an und auch ihre Großeltern wahrten die Distanz, wo immer es ging. Es war schon ein kleines Wunder gewesen, dass ihre Mutter ihr erlaubt hatte, die Ferien in Berlin zu verbringen –
Weitere Kostenlose Bücher