Die Stadt der gefallenen Engel
schmerzerfüllt auf und warf sich sofort wieder gegen das Gitter.
Lara war nun fast einer Panik nahe. Die wilde Angriffslust des Tieres verstörte sie zutiefst. Schweiß brach ihr aus allen Poren, aber sie konnte sich nicht rühren. Das Schauspiel der tobenden Raubkatze hielt sie fest in seinem Bann. Das Fell einer Pranke war aufgerissen und Blut tropfte aus der Wunde hervor.
»Mama, die Frau macht den Tieren Angst«, weinte eine helle Stimme neben ihr. »Sie soll das nicht tun.«
Lara wandte den Kopf und blickte auf einen kleinen, vielleicht vier Jahre alten Jungen hinab, der sie aus tränenerfüllten Augen ansah. Neben ihm beugte sich nun die Mutter des Kindes hinunter und schloss ihren Sohn in den Arm.
»Aber die Frau macht doch gar nichts, Tobias«, sagte sie beruhigend.
»Doch, sie macht der Katze Angst«, schluchzte der Kleine. »Sie soll weggehen.«
Die Mutter bemerkte, dass Lara die Unterhaltung mit angehört hatte und entschuldigte sich bei ihr. Lara winkte ab. Sie war vollkommen verwirrt. Die Worte des Jungen kreisten in ihren Gedanken: Mama, die Frau macht den Tieren Angst!
Lara sah zu den anderen Tiergehegen hinüber. Ihr Blick hastete nach links und rechts. Überall herrschte Ruhe, die Tiere benahmen sich nicht auffällig, nur der Leopard vor ihr spielte noch immer verrückt.
Lara trat ein paar Schritte zurück und sofort endete der erfolglose Versuch des Tieres, aus dem Käfig zu gelangen. Erschöpft und hechelnd ließ sich die Katze zu Boden sinken. Die gelben Augen fixierten Lara, aber als sie sich abwandte und ein Stück weiterging, begann der Leopard, sich das Blut von seiner verletzten Pfote zu lecken.
Lara dreht sich um und schritt schnell den Weg in Richtung Zooausgang hinunter.
Mama, die Frau macht den Tieren Angst!
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Was geschah hier? Was war bloß los mit ihr?
28.
Lara lief durch die Straßen. Sie hatte die U-Bahn bis in den Stadtteil ihrer Großeltern genommen, war aber zwei Stationen davor ausgestiegen. Die Enge des Fahrabteils schien ihr den Atem zu nehmen und sie brauchte Raum für ihre Gedanken.
Das Unwetter war über die Stadt hereingebrochen. Gleißende Blitze zerrissen den dunklen Himmel und Donnergrollen rollte über das Land. Der Regen prasselte von Sturmböen angepeitscht fast waagrecht in Laras Gesicht, aber es machte ihr nichts aus. Tatsächlich war das Toben der Natur wie eine Befreiung für sie.
Sie rannte, den Kopf in den Nacken gelegt, die Arme ausgebreitet, dem Gewitter entgegen und achtete dabei nicht auf die Leute, die sich an Bushaltestellen oder unter Hausdächern zusammendrängten, um nicht nass zu werden.
Lara war das alles scheißegal.
Scheißegal, dass ihr die Klamotten auf der Haut klebten und sie vor Kälte zitterte.
Scheißegal waren auch die Kopfschmerzen, die in ihrem Hirn hämmerten, als ginge es darum, die Schädeldecke wegzusprengen.
Ihr war einfach alles scheißegal.
Ben.
Ihr Vater.
Die Lügen ihrer Großeltern.
Und alles andere.
»Ich bin Lara«, schrie sie, aber der Wind fetzte die Worte von ihren Lippen.
Sie blieb stehen. Keuchend. Den Kopf nach vorne gebeugt, die Hände auf den Knien abgestützt, stand sie im strömenden Regen, starrte auf das Wasser, das ihre Füße umfloss und lächelte.
Ich bin Lara und ich bin, wie ich bin. Liebt mich oder lasst es bleiben.
Von heute an würde sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen, und wenn ihre Umgebung Schwierigkeiten damit hatte, wie sie das tat, dann war das deren Problem. Sie würde sich nicht mehr verbiegen, um anderen zu gefallen.
Plötzlich tauchten ein paar Stiefel in ihrem Gesichtsfeld auf. Sie hob den Blick. Dunkle Jeans und ein schwarzer Ledermantel. Abrupt richtete sie sich auf.
Damian stand vor ihr.
Der Regen hatte seine langen Haare an die hohen Wangenknochen geklebt. Unablässig strömte Wasser über sein Gesicht, troff über seinen Hals unter seinen Mantel, der vor Nässe glänzte, aber er rührte sich nicht, sprach kein Wort, stand einfach nur da und sah sie stumm an.
Mit einem sanften Lächeln im Gesicht. Seine Lippen waren leicht geöffnet, so als sei er gerannt. Zu ihr gerannt.
Lara blickte ihn lange an. Dann stürzte sie sich in seine Arme. Seine Hände umfassten sie, hielten sie fest und sein warmer Atem kitzelte an ihrem Hals. Sie schlang ihre Hände um seinen Nacken, presste ihn fest an sich, fühlte sein Kinn in ihrer Halsbeuge.
Sie standen schweigend.
Im strömenden Regen des tobenden Unwetters.
Aber sie hörten das
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