Die Stadt der gefallenen Engel
verspürte, war sie froh, dass ihre Großmutter das Haus bereits für weitere Besorgungen verlassen hatte. Lara wusste nicht, wie sie ihr gegenübertreten sollte. Zum einen empfand sie großes Mitleid mit ihr, aber andererseits war sie auch wütend darüber, dass alle sie wegen ihrer Vergangenheit anlogen.
Ich muss erst wieder zu mir finden, dann spreche ich mit ihr. Dann habe ich vielleicht die Kraft, sie zu trösten und ihr beizustehen, aber im Augenblick ist mir das alles zu viel.
Laras Blick fiel auf die Wanduhr über der Anrichte. Fast zehn Uhr. Ob sie Damian heute sehen würde? Ihre Verabschiedung gestern Abend war ziemlich merkwürdig gewesen. Damian hatte so traurig gewirkt, aber er hatte Lara versprochen, sich bei ihr zu melden. Wie sie es hasste, ihn nicht einfach anrufen zu können! Sie überlegte, ob sie daheimbleiben und darauf warten sollte, ob er sich meldete, entschied sich dann aber dagegen. Wieso musste nur immer alles so kompliziert sein?
Lara ging zum Fenster. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf, aber das sollte sie nicht davon abhalten, das Haus zu verlassen. Sie musste raus aus diesen bedrückenden Wänden, die sie permanent an all die Lügen erinnerten, die ihre Vergangenheit überschatteten. Und sie hatte einfach keine Lust darauf, über ihr verkorkstes Leben nachzudenken. Aber was sollte sie alleine unternehmen?
Schon wieder einkaufen, kam nicht infrage, so viel gab ihr Geldbeutel nicht her, und bloß durch die Stadt zu bummeln, war langweilig, zumal es jeden Augenblick regnen konnte.
Eine bunte Ansichtskarte des Berliner Zoos fiel ihr an der Pinnwand ihrer Oma auf. Knut, der Eisbär, war darauf abgebildet. Lara hatte damals den Rummel um den kleinen Eisbären verfolgt. Beinahe täglich hatte sie die Nachrichtensendungen und Fernsehmagazine angeschaut, die immer neue Bilder des tapsigen Bärenbabys zeigten.
Knut wollte ich schon immer mal sehen, lächelte Lara zufrieden. Er war zwar jetzt erwachsen, aber seine Ausstrahlung auf die Massen hielt nach wie vor an. Täglich besuchten viele Menschen den Zoo, nur um ihn zu sehen.
Lara ging in ihr Zimmer und kramte den Reiseführer von Berlin hervor, den sie letzte Woche in Stuttgart gekauft hatte. Der Berliner Zoo lag fast am anderen Ende der Stadt, aber in dem Handbuch gab es einen Fahrplan der öffentlichen Verkehrsmittel.
Lara zog sich Schuhe an, warf sich eine Jacke über und machte sich auf den Weg.
Als Lara das Haus verließ, bemerkte sie die junge Mutter nicht, die einen Kinderwagen mit zugezogenem Verdeck vor sich herschob.
Die Frau war mittelgroß, mit aschblondem Haar, das ihr strähnig ins Gesicht fiel. Sie trug einen langen Mantel, der den Großteil ihres Körpers verhüllte, und ging mit langsamen Schritten hinter Lara her, als diese die Straße zur nächsten U-Bahn-Station hinablief.
Die Frau hatte keine Eile, aber ihre Hände umklammerten die Haltegriffe des Kinderwagens viel zu fest und durch ihr Gewicht presste sie die Räder auf die Straße, bis sie quietschten.
Ein grausamer Zug lag auf den grell geschminkten Lippen, als sie sich umsah und feststellte, dass niemand außer ihr und dem Mädchen unterwegs war. Sie warf kurz einen Blick ins Innere des Kinderwagens und lächelte die Holzpuppe an, die sie hineingelegt hatte.
Eine List, die aber eigentlich unnötig war, denn der Dämon hatte nicht vor, jemanden in den Kinderwagen blicken zu lassen.
Die Augen der Frau suchten wieder Lara, die gerade um die Ecke der nächsten Straße bog. Sie hatte inzwischen einen gehörigen Vorsprung, aber auch das war nicht von Bedeutung. Im ganzen Umkreis um das Haus hatten Dämonen Posten bezogen und beobachteten jeden ihrer Schritte.
Die junge Frau fletschte die Lippen, als sie an den Anführer dachte, und offenbarte dabei gelb verfärbte Zähne. Satan hatte ihnen befohlen, das Mädchen zu ihm zu bringen, und er würde sie reich belohnen, wenn dieses Kind endlich in seiner Gewalt war. Aber es ging nicht nur um Belohnung. Es ging um Macht. Dieses Mädchen bedeutete Macht. Wer über Macht verfügte, kontrollierte die Tore zu dieser Welt und herrschte über die Menschen.
Der Dämon bleckte die Zähne. Nur allzu gern wäre er über die Straße gestürzt, um das Mädchen zu packen und sie mit sich in die Hölle zu schleppen, aber er tat es nicht, denn er fürchtete Damians Zorn, der ihn unbarmherzig zerschmettern würde, sollte er keinen Erfolg haben und das Tor zur Unterwelt nicht rechtzeitig erreichen.
Grum’aak hatte recht, wenn er
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