Die Stadt der gefallenen Engel
hatten, um sich ablichten zu lassen. Sie wollte das Bild gerade zurückstecken, als ihr etwas auffiel.
In der Mitte des Fotos stand ein junges Paar, das unzweifelhaft ihre Großeltern waren. Ihr Opa trug einen dunklen Anzug, ein blütenweißes Hemd und eine Krawatte. Sehr ungewöhnlich für einen Mann, der alle Konventionen ablehnte. Sein Haar war noch voll und schwarz, zwar länger als zur damaligen Zeit üblich, aber noch nicht so lang wie heute und auch nicht als Pferdeschwanz gebunden.
Ihre Oma trug ein einfaches weißes Kleid, das über den Knien endete und sich eng an ihren schlanken Körper schmiegte. Ihre Haare waren zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, um den Hals lag eine schlichte Perlenkette. Auf dem Arm ihrer Großmutter ruhte ein Baby, das nicht viel älter als ein Jahr sein konnte.
Lara wendete das Bild. Über einem verblassenden Stempel mit dem Namen des Fotoateliers war handschriftlich das Datum der Aufnahme vermerkt.
6. Juni 1967.
Was Lara sich schon gedacht hatte, wurde nun zur Gewissheit. Das Baby auf dem Foto war natürlich ihre Mutter, und zwar an ihrem ersten Geburtstag – auch wenn das Ganze nicht gerade wie eine Geburtstagsfeier wirkte. Ihre Großeltern blickten genauso ernst in die Kamera wie die ungefähr zehn Gäste, die sie in die Mitte genommen hatten.
Der rechte Arm des Professors lag um die Schulter seiner Frau, so als müsse er sie stützen. Die andere Hand hielt die Hand seiner Tochter oder deutete darauf, so genau war das auf dem Foto nicht zu erkennen.
Ihre Mutter steckte in einem weißen Kleidchen mit Rüschen, das fast bis zu den Knöcheln reichte, aus denen weiße Söckchen hervorlugten. Die nackten Arme waren frei und wie bei allen Kindern dieses Alters wirkten sie ein wenig speckig.
Irgendwie war es seltsam, die eigene Mutter als Baby zu sehen. Lara betrachtete das Gesicht ihrer Mutter. Offensichtlich hatte das Kind keinen Spaß an der ganzen Sache, denn der kleine Mund war zu einem stummen Schrei aufgerissen, das Gesicht schmerzvoll verzerrt.
Arme Mama, dachte Lara und lächelte. Sie selbst war nie getauft worden, aber bei der Feier auf der Fotografie handelte es sich zweifellos um eine Taufe. Dem feierlichen Anlass trugen die erwachsenen Gäste mit ernsten Mienen Rechnung.
Als Lara darüber nachsann, wie viel Zeit seitdem vergangen war, fiel ihr noch etwas auf dem Foto auf. Vor dem zerfließenden Hintergrund, der nicht ahnen ließ, ob das Foto drinnen oder draußen aufgenommen worden war, standen zwei weitere Männer. Abseits der Gruppe hatten sie die Köpfe zusammengesteckt und sprachen miteinander.
Irgendetwas an diesen beiden Gestalten kam Lara merkwürdig vertraut vor, aber die Männer blieben unscharfe Schemen.
Komisch, dachte sie, warum haben sich die beiden nicht zur Gruppe gestellt, als das Foto gemacht worden war?
Die Türglocke läutete und Lara zuckte zusammen. Hastig steckte sie das Bild zurück ins Buch und schob es an die vorgesehene Stelle ins Regal. Danach ging sie an die Haustür.
Sie hatte erwartet, dass es ihre Großmutter oder ihr Großvater waren, die ihren Hausschlüssel vergessen hatten, aber vor ihr stand ein Fahrer von Fleurop mit einem gigantischen Blumenstrauß auf den ausgestreckten Armen.
»Für Professor Maximilian Hermsdorf«, sagte der Bote.
»Das ist mein Opa.«
Sofort übergab er ihr den Strauß und zog ein Klemmbrett unter seiner Achsel hervor.
»Ihr Name, bitte?«
»Lara Winter.«
Er reichte ihr das Formular und einen Kugelschreiber.
»Bitte rechts unten unterschreiben.«
Als er das Klemmbrett wieder in Empfang nahm, grinste er. »Ich würde die Blumen sofort ins Wasser stellen. Das sind teure Orchideen, die ein Vermögen kosten, und falls die …« Er blickte Lara vielsagend an.
»Ich passe schon drauf auf«, erklärte Lara und fragte sich stumm, warum sie sich vor einem vollkommen fremden Mann rechtfertigte.
»Dann ist ja gut«, meinte dieser, nickte ihr zu und ging zurück zu seinem Fahrzeug, das in der Hofeinfahrt parkte.
Da Lara nicht wusste, wo ihre Großmutter die Vasen aufbewahrte, ging sie in die Küche, ließ Wasser ins Waschbecken laufen und stellte den Strauß hinein. Am Einpackpapier war ein Umschlag befestigt, in dem eine Karte steckte. Vorsichtig, damit das Papier nicht nass wurde, löste sie den Umschlag und legte ihn auf die Anrichte.
Ein Blick auf die Wanduhr zeigte ihr, dass sie einige Zeit in der Bibliothek verbracht hatte. Zwar würde es noch ein paar Stunden dauern, bis die ersten
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