Die Stadt der schwarzen Schwestern
der ein fadenscheiniges Kleid aus grün gefärbtem Leinen hing. Es entsprach dem Stil ihrer Mutter. Isabelle hatte farbenfrohe Kleider geliebt, doch Griet erinnerte sich nicht daran, sie in dieser Robe gesehen zu haben. Ihr Vater, ja, der hätte ihr sagen können, wann und zu welchem Anlass sie es getragen hatte. Gewiss war Sinters Herz gebrochen, als er all die alten Erinnerungsstücke hier zurücklassen musste. Plötzlich empfand Griet Mitgefühl und Zuneigung für den alten Mann.
«Es ist nicht leicht, zu seinen Fehlern zu stehen, Griet», sagte Don Luis leise. «Ihr seid keineswegs gefühllos. Redet Euch bloß nicht immerzu ein, nicht gut genug für diese Welt zu sein. Ich weiß sehr wohl, was für ein gutes Herz Ihr habt und dass Ihr eine leidenschaftliche, mitfühlende Frau seid. Es sind Eure Verluste, die Euch misstrauisch gemacht haben.»
«Kein Wunder, wenn man schon so oft belogen wurde.» Griet erwiderte seinen Blick. «Ihr selbst, Don Luis, habt mich bezüglich der schwarzen Schwestern hintergangen. Ja, ich weiß, Ihr hattet Gründe, mir die Wahrheit vorzuenthalten. Vater hatte auch seine Gründe, mir den wohlhabenden Hofbeamten vorzugaukeln. Flandern und Brabant befinden sich in einer blutigen Auseinandersetzung. Auch für diesen abscheulichen Krieg wurden schon gute Gründe genannt. Ich sehe nur nicht ein, warum sich all diese Gründe immer gegen mich und das bisschen Glück richten, von dem ich träume. Verlange ich so viel? Warum soll ich immer die Leidtragende sein?» Sie schob einige Kisten zur Seite und breitete eine Decke über dem Strohsack aus, den die Wirtschafterin in die Kammer gelegt hatte. «Ich möchte nun nicht mehr darüber reden.»
«Zerfließt nicht in Selbstmitleid, sonst hat die arme Frau da unten morgen gute Gründe, den Boden hier zu wischen», sagte Don Luis.
Er duckte sich gerade noch rechtzeitig, bevor Griets Holzpantine ihn am Kopf erwischen konnte.
Die Kammer in dem Haus, das Griets Familie nicht mehr gehörte, war weitaus angenehmer als der Verschlag, in dem Cäcilia die Nacht verbrachte. Die Frau zitterte vor Kälte. Die Decke, die sie – der Himmel mochte ihr vergeben – von einer Wäscheleine gestohlen hatte, schützte sie nur notdürftig vor der Kälte, die durch die Ritzen ihrer Zufluchtsstätte drang. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, den Schuppen nicht näher zu erforschen, ließ es sich nicht vermeiden, die Blicke schweifen zu lassen. Sie war nicht allein in dem nach Abfällen und schwitzenden Körpern riechenden Raum. Mehr als zehn Personen, viele von ihnen alt und nur in Lumpen gehüllt, zählte sie. Die meisten hatten sich nach Einbruch der Dunkelheit eingefunden und waren von den anderen knapp begrüßt worden. Niemand fragte Cäcilia, wer sie war und woher sie kam. Es gab Regeln in dem Schuppen. Eine davon besagte, dass die Ausgestoßenen, die sich der Verhaftung und Vertreibung durch den Bettelvogt entziehen konnten, ihre Leidensgenossen in Ruhe schlafen ließen. Dies war aber auch die einzige Rücksichtnahme, die Cäcilia hier feststellen konnte. Wer etwas zu essen hatte, aß, wer nichts hatte, hungerte. Kranke wurden aus Furcht vor Seuchen an die Luft gesetzt. Einige Personen besaßen Kerzenstummel oder eine Tranlampe, die wenigstens mattes Licht spendete. In Cäcilias Umgebung, wo nur ein Weib mit zwei Kindern hockte, herrschte dagegen Finsternis wie in Jona’ Fischbauch. Das fand Cäcilia jedoch nicht schlimm, ihre Augen brannten, da war die Dunkelheit angenehmer. Außerdem hätte sie es bedrückend gefunden, wenn die Bettler und Spitzbuben sie angestarrt und überlegt hätten, was sie zu ihnen führte. Es war klar, dass Cäcilia nicht in diesen Schuppen gehörte, der mitten im Brüsseler Hurenviertel zwischen einer heruntergekommenen Schenke und der Behausung eines Abdeckers lag.
Im Laufe des Abends schwoll das Flüstern der Ausgestoßenen zu einem lauten Geplauder an. Dies hatte damit zu tun, dass der Lärm in der benachbarten Schenke die Geräusche der Bettler im Schuppen übertönte. Diese fühlten sich nun sicher und ungestört. Einige jüngere Männer, die ihre älteren Leidensgenossen von den Strohballen verjagt hatten, begannen im Schein einer Wachskerze ein Würfelspiel. Cäcilia roch Wein und Bier, das aus schmutzigen Lederschläuchen direkt in die Münder der Spieler quoll. Der Spieleinsatz, über den die Burschen kicherten, war eine dralle, schwarzhaarige Frau. Da das Alter sie unförmig gemacht und eine Krankheit ihr Gesicht mit
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