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Die Stadt der schwarzen Schwestern

Die Stadt der schwarzen Schwestern

Titel: Die Stadt der schwarzen Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Guido Dieckmann
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hässlichen Pockennarben gezeichnet hatte, war sie aus dem benachbarten Dirnenhaus vertrieben worden und versuchte nun zu überleben, indem sie den Bettlern für einen Bissen Brot und einen Schluck Wein ihren Körper anbot.
    Cäcilia schloss die Augen und versuchte, sich auf ihre Gebete zu konzentrieren. Doch es gelang ihr nicht, die richtigen Worte zu finden. Sie hatte das Ordensgewand der schwarzen Schwestern abgelegt und nur das hölzerne Kruzifix um den Hals behalten; in dem zerrissenen Lumpen, der ihren mageren Körper einhüllte, war sie nicht mehr als Nonne zu erkennen. Vielleicht zürnte ihr der Himmel, weil sie das Los ihrer Mitschwestern nicht geteilt hatte? Sie wusste es nicht. Es ist keine Sünde, zu überleben, rief sie sich die Worte eines Freundes ins Gedächtnis. An ihn, einen Pater, der in Oudenaarde lebte, musste sie in letzter Zeit häufiger denken. Doch hier, in dieser trostlosen Umgebung, wären dem frommen Mann gewiss auch keine tröstenden Worte mehr eingefallen.
    Wiederholt tastete sie mit den Fingern nach dem Bündel, auf dem sie wie eine Glucke saß. Seit sie sich in dem Schuppen niedergelassen hatte, wagte sie nicht aufzustehen. Nicht einmal, um sich zu erleichtern, weil sie panische Angst hatte, einer der Galgenvögel könnte das Bündel bemerken und es stehlen. Damit aber wäre ihr Leben mit einem Schlag sinnlos geworden. Sie betrachtete es als Fügung Gottes, dass sie in Elsegem nicht den Tod gefunden hatte. Noch lebte sie, aber das konnte sich jederzeit ändern. Voller Grauen erinnerte sie sich zurück, wie Bernhild sie gerufen und mit ihr gestritten hatte. Alles andere lag in tiefer Dunkelheit, aus der Gott sie erst im Wald, viele Meilen von dem kleinen Dorf, in dem der Reisewagen gehalten hatte, erlöst hatte. Zu Beginn ihrer Flucht war sie nicht allein gewesen. Sie erinnerte sich an einen ältlichen Mann, der zum Gutshof von Elsegem gehörte. Wie sie hatte auch er sich in Sicherheit bringen können, und im Wald hatten sich ihre Wege gekreuzt, vielmehr war er in blinder Hast über sie gestolpert. Er war bei ihr geblieben, bis das Fieber aus ihrem Kopf gewichen war und sie wieder auf ihren Beinen stehen konnte. Dies rechnete sie ihm hoch an. Aber ihrem Wunsch, sie nach Brüssel zu bringen, hatte sich der Alte widersetzt. Er wollte bei seiner Schwester, einer Köhlerwitwe, Zuflucht suchen, die in der Gegend von Gent lebte, und von dort aus nach Elsegem zurückkehren.
    Cäcilia zog es nicht zurück an diesen Ort des Unheils. Auch die Abtei von Hertoginnedal bot keinen Schutz mehr für sie. Cäcilia war davon überzeugt, dass sie gesucht wurde. Zweifellos fahndete der Mann, der Bernhild getötet hatte, bereits in ganz Flandern nach ihr. Was er von ihr wollte, lag in dem Bündel, auf dem sie saß.
    Es dauerte Stunden, bis sie dem Jucken ihrer Augen nachgab und sich zurücklehnte. Die Männer würfelten und tranken noch immer, angefeuert von der Pockennarbigen, die mit schwerer Zunge von den Wonnen schwärmte, die den Sieger in ihrem Schoß erwarteten. Cäcilia wurde dabei so übel, dass sich ihr Magen schmerzhaft verkrampfte. Sie krümmte sich, um Erleichterung zu finden; auf keinen Fall durfte sie ihren Platz verlassen. Neben der Tür lungerten mehrere Gestalten herum, die nicht zögern würden, ihn ihr streitig zu machen, falls sie sich erhob. Stöhnend drehte sie sich auf die Seite. Ich muss mich ablenken, überlegte sie. Sie dachte an den wunderschönen Garten von Hertoginnedal, der so nahe war, dass sie ihn in einem strammen Fußmarsch von vier Stunden hätte erreichen können. Dann rief sie sich die Choräle ins Gedächtnis, die sie in der Klosterkirche gesungen hatte, und die Zeit ihrer Ankunft bei den schwarzen Schwestern und das Leben davor. Ein Leben, das ebenso wenig zu ihr gehörte wie der vermoderte Schuppen, in dem sie lag. Cäcilia spürte, wie das Fieber, das sie nach ihrer Flucht überfallen hatte, wiederkehrte. Zorniger als beim ersten Mal griff es nach ihr, bis ihre Haut zu brennen begann. Gott steh mir bei, flehte sie. Sie durfte nicht krank sein. Wenn sie hier, zwischen Ratten, Wanzen und fauligem Stroh, starb, würden die Gehilfen des Abdeckers, dem der Schuppen gehörte, morgen eine nackte, ausgetrocknete Leiche finden. Eine Namenlose, die zusammen mit verendeten Tieren in der Abdeckergrube enden würde. Nicht einmal Gewand und Umhang würde man ihr lassen, denn auch das war Gesetz unter Ausgestoßenen: Jedes Stückchen Tuch, und mochte es auch nur ein Lumpen sein,

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