Die Stadt der schwarzen Schwestern
Gedächtnis nach dem Titel zu durchsuchen, den die Frau während der Reise genannt hatte. Griet hatte wenig Hoffnung, dass er sich daran erinnerte, doch schließlich legte sich ein Lächeln über die aufgesprungenen Lippen des Waffenknechts. «Das Buch des Aufrechten . Ja, so hieß es. Die Frau machte sich Sorgen um das Buch. Sie meinte, Bernhild hätte es nicht mit auf die Reise nehmen, sondern in der Abtei bei Brüssel lassen sollen. Als ihre Mitschwestern bemerkten, dass ich in der Nähe war und jedes Wort verstehen konnte, befahlen sie der Frau energisch, zu schweigen.»
«Was ist mit der anderen Nonne, von der du vorhin sprachst?», wollte Don Luis wissen. «Hat sie etwas von der Unterhaltung mitbekommen?»
Der Mann versuchte sich zu erinnern. Schließlich nickte er. «Ich denke schon, dass sie über das Buch Bescheid wusste.»
Griet seufzte. Sie fand die ganze Geschichte schwer nachvollziehbar. Nun sollte plötzlich ein Buch Anlass für den Überfall geboten haben? Gewiss gab es in Klöstern und fürstlichen Bibliotheken Schriften von unschätzbarem Wert, doch sie hatte noch nie davon gehört, dass jemand in den Sinn gekommen wäre, zu töten, um ein Buch in seinen Besitz zu bekommen. Dieser Gedanke klang abwegig. Andererseits wurden harmlose Ordensfrauen, die sich auf einer Reise durch die Ardennen befanden, auch nicht grundlos überfallen. Also musste jemand von ihrem Plan, heimlich das Land zu verlassen, erfahren haben. Und dieser Unbekannte hatte genau das verhindert.
«Ich habe in unserem Haus kein fremdes Buch gefunden», beharrte Anne van Aubrement auf Don Luis’ Nachfrage. «Ihr dürft mir gern glauben, dass ich es entdeckt hätte, wenn es noch dagewesen wäre.»
Davon war Griet auch überzeugt. Annes ganzer Lebensinhalt bestand darin, ihren Bruder zu versorgen und das Gutshaus der Familie in einem ordentlichen Zustand zu halten. Sie hatte viel Kraft aufgeboten, um jede Spur des für sie unangenehmen Zwischenfalls zu beseitigen. In gewisser Weise erinnerte sie Griet an ihre Schwiegermutter Hanna, die ohne jeden Zweifel ähnlich vorgegangen wäre, um die Erinnerung an ein quälendes Erlebnis auszutilgen. Nur konnten ein paar Eimer Wasser, Essig und Scheuersand zwar das Blut auf dem Dielenboden entfernen, nicht aber die Tat als solche ungeschehen machen. Da gab es noch die verlassenen Reisewagen in der Scheune, die frischen Gräber auf dem nahen Kirchhof und den verletzten Mann in der Gesindekammer. Sie erinnerten daran, was hier geschehen war.
«Wenn diese unbekannten Männer Bernhild des Buches wegen überfallen haben, müssen sie von ihm gewusst und seinen Wert gekannt haben», überlegte Griet, als sie wenig später in der Halle saßen. Der Waffenknecht war in einen tiefen Schlaf gefallen; so schnell würde er nicht wieder erwachen und für weitere Fragen zur Verfügung stehen. Sie mussten sich daher gedulden.
Draußen hatte ein Sturm eingesetzt. Wütend peitschte der Regen über das Gras der Wiesen und Kuhweiden und trommelte gegen die Butzenscheiben der Fenster. Anne war sogleich zu den Ställen gelaufen, um die Türen fest zu verschließen. Triefend von Kopf bis Fuß schloss sie nun auch noch in der Halle die Läden vor den Fenstern, woraufhin es in dem Raum augenblicklich dunkel wurde wie in der tiefsten Nacht. Griet sprang auf, um der mürrischen Landadeligen zur Hand zu gehen, doch diese lehnte mit der ihr eigenen Mischung aus Stolz und Eigensinn ab. Ihrem Bruder Gilles, der geduldig wartete, bis auch noch die Kerzen angezündet wurden, warf Anne einen vorwurfsvollen Blick zu, dachte aber nicht daran, ihn um Hilfe zu bitten. Schlotternd verschwand sie schließlich, um in der Küche Würzwein zu erhitzen.
«Eine tüchtige Frau», murmelte Hieronymus Ferm anerkennend, nachdem Anne die Halle verlassen hatte. «Wie schade, dass sie ihre besten Jahre hier vergeudet. In Brüssel würde eine Dame ihres Standes ganz anders leben, nicht wahr, meine Liebe? Ihr stammt doch ursprünglich aus Brüssel?»
Griet bestätigte das widerstrebend. Es war lange her, dass sie sich wie eine Edeldame gefühlt hatte, falls dies überhaupt jemals in ihrem Leben der Fall gewesen war. Ihre Mutter, die schöne Isabelle, hätte Hieronymus Ferms Frage ohne zu zögern beantworten können. Ihre Welt hatte einem immerwährenden Reigen aus Flötenspiel und höfischen Tänzen geglichen, einem Fest mit prächtigen Kleidern, wertvollem Schmuck und Einladungen in die Residenz Kaiser Karls V. und seiner Schwester, der
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