Die Stadt der schwarzen Schwestern
aus, als ob es durch viele Hände gewandert wäre. «Was ist das?», wollte Griet wissen.
«Eine Grammatik der hebräischen Sprache. Ich habe ein solches Exemplar gesehen, als ich auf Reisen im Süden Deutschlands war. Es stammt von einem gewissen Johannes Reuchlin.»
«Wozu brauchten die Schwestern eine hebräische Grammatik?»
Don Luis schlug das Buch zu. «Ich habe keine Ahnung. Ihr Orden ist ja nicht gerade für seine Gelehrsamkeit bekannt. Vielleicht hat jemand den Nonnen das Buch geschenkt?»
Griet nahm die Grammatik zur Hand und begann nun ihrerseits darin zu blättern. Ganz vorne, auf der ersten Seite, fand sie den Namen Bernhild van Aubrement in zierlichen Lettern geschrieben, was darauf hindeutete, dass die Vorsteherin das Buch als ihren persönlichen Besitz betrachtet hatte. Auffallend war, dass Bernhild auf nahezu allen Seiten Randbemerkungen hinterlassen und einzelne Passagen mit Tinte unterstrichen hatte. Sie musste die Grammatik immer wieder aufmerksam studiert haben.
«Bernhild van Aubrement hat sich intensiv und über einen langen Zeitraum mit der hebräischen Sprache befasst. Für eine Nonne, deren Orden mit der Pflege Kranker und der Herstellung von Leinen und Borten betraut war, ist das doch ein eher ungewöhnlicher Zeitvertreib, nicht wahr? Die meisten Nonnen verstehen kaum so viel Latein, dass sie der Messe folgen können.»
«Pflanzensamen und alte Bücher», murrte Don Luis, der Griets Überlegungen offensichtlich für Zeitverschwendung hielt. «Wäre diese Frau nicht so eitel gewesen …» Er hielt inne. Ohne ein weiteres Wort nahm er Griet die Grammatik aus der Hand.
Griet sah ihn verwundert an. Er verheimlichte ihr etwas, das spürte sie schon eine ganze Weile. Nun erweckte er beinahe den Eindruck, als suchte er nach etwas ganz Bestimmtem. Nach Briefen und Urkunden hatte er sich erkundigt. Weshalb Briefe?
«Ihr habt gehofft, auf dem Wagen etwas zu finden, nicht wahr?» Es war nur so ein Gefühl, welches sie die Frage stellen ließ.
Don Luis zuckte mit den Achseln. «Natürlich, deshalb sind wir doch hergekommen.»
«Weicht mir bitte nicht aus, Don Luis.» Griet konnte sich nicht erklären, was sich verändert hatte, aber mit einem Mal fürchtete sie sich vor ihm. Sie hatte geglaubt, ihn zu verstehen, ja vielleicht sogar zu lieben, und musste nun feststellen, dass er ihr fremder nicht sein konnte. Ohne es zu wollen, wich sie vor ihm zurück und spähte zur Eingangstür, die Don Luis geschlossen hatte.
«Ich glaube Euch nicht, dass Ihr völlig ahnungslos seid.» Griets Stimme zitterte. Sie dachte an die frischen Gräber auf dem Kirchhof und an die alte Frau, die mit einer hebräischen Grammatik im Gepäck in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, nur, um hier unter mysteriösen Umständen den Tod zu finden. «Ihr wisst mehr über die Geschehnisse, als Ihr mir sagt.»
«Wie kommt Ihr darauf?», fragte er kalt.
Griet würgte an den Worten, die sie ihm an den Kopf zu werfen gedachte, und sah, wie er langsam auf sie zukam. «Seit wir Oudenaarde verlassen haben, schaut Ihr unentwegt auf Eure merkwürdige Karte. Ihr kennt die Gegend nicht, seid angeblich niemals zuvor durch die Ardennen gereist. Jedenfalls nicht ohne Karte. Aber den Gutsbesitz Elsegem habt Ihr auf Anhieb gefunden.»
«Griet, Ihr wisst nicht, wovon Ihr sprecht!»
«So? Ich glaube, dass Ihr eine Ahnung habt, warum die Nonnen ermordet wurden.»
Don Luis schüttelte den Kopf. «Nein, habe ich nicht, aber ich gebe zu, dass ich diese Bernhild im Palast der Generalstatthalterin in Namur schon gesehen habe. Sie wurde zu Margarethe bestellt, nachdem die Fürstin beschlossen hatte, die Nonnen zurück nach Oudenaarde zu schicken.»
«Warum habt Ihr mir nicht erzählt, dass Ihr sie gekannt habt?»
«Gekannt ist ein zu großes Wort.»
«Dann sucht ein kleineres, Hauptsache, es trifft die Sache!»
Don Luis zögerte, dann aber atmete er tief durch und beschloss, Griet die Wahrheit zu sagen. Dazu kam es jedoch nicht, da plötzlich Anne van Aubrement in die Scheune geeilt kam. «Da seid Ihr ja», rief sie. «Hieronymus Ferm sucht Euch überall. Ihr sollt gleich ins Haus kommen. Der Verwundete ist eben erwacht, aber Ferm fürchtet, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben wird.»
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Kapitel 20
Sie verließen die Scheune und eilten den Weg über die Wiesen hinunter, bis die hohen Mauern des Gutshauses vor ihnen aufragten. Der Verletzte war im Erdgeschoss in einer abgelegenen engen Kammer des Gesindetrakts
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