Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1
gedachte er der Prophezeiung Liths, und mit düsterer Ahnung stieg er hinab ins Erdgeschoss. Dort wandten am nördlichen Fenster der Knabe Ratha und die alte Vettel Ahilidis ihre Gesichter dem Lichte zu. Steif standen sie da, die Augen weit geöffnet, und bleicher Schrecken lag in ihren Blicken, und über ihnen lag der weiße Tod, dem bereits die Mannschaft der Galeere erlegen war. Und als er sich ihnen näherte, wurde der Magier durch die grausige Kälte, die von ihren Leibern ausging, zurückgehalten.
Er wäre aus dem Haus geflohen, da er wusste, dass seine Magie hier völlig machtlos war – doch ihm wurde bewusst, dass in den Strahlen des Eisbergs der Tod lag, und hätte er das Haus verlassen, wäre er notgedrungen dem tödlichen Licht ausgesetzt gewesen. Und ihm wurde auch bewusst, dass einzig er von allen Anwohnern der Küste dem Tod entronnen war. Er konnte den Grund dafür nicht erraten, doch schließlich hielt er es für das Beste, geduldig und furchtlos abzuwarten, was geschehen würde.
Er kehrte in sein Gemach zurück und beschäftigte sich mit Beschwörungsformeln. Doch seine vertrauten Geister waren in der Nacht verschwunden und hatten die Winkel, die sie bewachen sollten, verlassen. Kein Geist, weder der eines Menschen noch der eines Dämons, gab Antwort auf seine Fragen. Und auf keinerlei Weise, die Zauberern bekannt ist, vermochte er etwas über den Eisberg zu erfahren oder erlangte auch nur die leiseste Ahnung von dessen Geheimnis.
Als er sich mit seinen wirkungslosen Zaubersprüchen plagte, spürte er auf seinem Gesicht den Hauch eines Windes, der nicht aus Luft bestand, sondern aus einem feineren und selteneren Element, das kalt war wie Mondäther. Er konnte nicht mehr atmen, und mit unaussprechlichen Schmerzen fiel er zu Boden. Er befand sich in einer wachen Ohnmacht, die dem Tode ähnelte. Er nahm halbwegs die Stimmen wahr, die unbekannte Flüche sprachen. Unsichtbare Finger berührten ihn mit eisigen Stichen, und über ihm pulsierte ein trübes Licht wie eine Gezeit der Ebbe und Flut. Dieses Licht war all seinen Sinnen unerträglich, doch es wurde langsam heller und verlosch nur noch kurzzeitig, und bald hatten seine Augen und sein Fleisch sich soweit daran gewöhnt, dass er es zu ertragen vermochte. Nun drang das Licht des Eisbergs mit aller Kraft durch die nördlichen Fenster, und ihm war, als betrachtete ihn ein gewaltiges Auge aus diesem Licht heraus. Er wollte aufstehen, um sich diesem Auge zu stellen, doch die Ohnmacht lähmte ihn weiterhin.
Danach schlief er für eine Weile. Als er erwachte, fand er in allen Gliedern die gewohnte Kraft und Gewandtheit. Das sonderbare Licht war noch immer über ihm und füllte sein Gemach aus, und als er aus dem Fenster blickte, wurde er Zeuge eines weiteren Wunders. Denn siehe, sein Garten und die Felsen und der Sand darunter waren nicht mehr sichtbar. Statt ihrer umgaben gewaltige Eisflächen sein Haus und riesige Gipfel erhoben sich wie die breiten Türme einer Festung. Jenseits des Eises sah er das Meer, das weit entfernt war, und jenseits des Meeres zeichnete sich undeutlich und dunkel ein Küstenstreifen ab.
Evagh wurde nun von Entsetzen ergriffen, denn er erkannte in all dem das Werk eines allumfassenden Zaubers, der die Macht sterblicher Magier weit übertraf. Denn es war ersichtlich, dass sein hohes Haus aus Granit nicht länger an der Küste von Mhu Thulan stand, sondern sich nun auf einer der höchsten Spitzen des Eisberges erhob. Zitternd ging er in die Knie und betete zu den Alten Wesen, die in verborgenen und unterirdischen Kavernen hausen und unter dem Meer oder in überweltlichen Räumen leben. Und noch während er das tat, hörte er ein lautes Klopfen an seiner Tür.
Voller Furcht und Verwirrung erhob er sich und öffnete. Vor ihm standen zwei Männer – oder Geschöpfe, die wie Männer aussahen. Beide hatten merkwürdige Gesichter und sehr helle Haut. Sie trugen als Mäntel den mit Runen geschmückten Stoff der Zauberer. Diese Runen waren ungeschlacht ausgeführt und fremd, doch als die Männer ihn ansprachen, verstand er ihre Rede recht gut, denn es war ein Dialekt der Inseln Hyperboreas.
»Wir dienen Jenem, dessen Ankunft der Prophet Lith vorhersagte«, sprachen sie. »Aus einem Gebiet jenseits der Grenzen des Nordpols kam er in seiner schwimmenden Festung, dem Eisberg Yikilth, um die Meere der Welt zu bereisen und mit eisigen Stürmen die schwächlichen Völker der Menschheit heimzusuchen. Uns allein von allen Einwohnern der
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