Die Stadt der Singenden Flamme - Die gesammelten Erzaehlungen - Band 1
Frauen mit ihrer bleichen, feenhaften Schönheit empfanden wir dasselbe Verlangen, das die Toten für die Schattenlilien auf den Auen des Hades empfinden mögen.
Unsere Tage verbrachten wir auf der Wanderschaft durch die Ruinen verlassener, längst vergessener Städte, deren kupfergeschmückte Paläste und die zwischen Reihen goldener, inschriftenverzierter Obelisken verlaufenden Straßen entweder tot und finster im erlöschenden Licht vergingen oder schon unter einer wahren Flut aus Dunkelheit für alle Zeit begraben lagen. Nichts rührte sich in diesen Städten, deren gewaltige eiserne Tempel den düsteren Glanz und die Ehrfurcht einer grauen Vorzeit bewahrten. Unbeirrt starrten von diesen Heiligtümern die Abbilder seit Jahrhunderten vergessener Götzen in einen Himmel, doch der bot keine Hoffnung mehr. Sie erblickten nichts als finsterste Nacht, das äußerste Vergessen.
Mühsam hegten wir unsere Gärten. Der Duft ihrer grauen Lilien barg eine Zauberkraft, die Tote zu erwecken und geisterhafte Träume der Vergangenheit heraufzubeschwören vermochte. Oder wir streiften über die fahlen Felder eines immerwährenden Herbstes und suchten die seltenen, rätselhaften Immortellen – unsterbliche Blumen mit farblosen Blättern und blassen Blüten, die den Geruch ihrer betörenden, lähmenden Tautropfen verströmten –, die unter dem fahlen Laubwerk weit ausladender Weiden wuchsen oder an den Ufern eines Flusses, der lautlos wie der Acheron dahinfloss.
Und einer nach dem anderen starben wir und wurden in dem sich häufenden Staub der Jahrhunderte vergessen. Wir sahen die Jahre wie Schatten vorüberziehen und vergehen und den Tod selbst als den Übergang von Dämmerung zu Finsternis.
HYPERBOREA
Will Murray: Das Hyperborea von Clark Ashton Smith
»Ich fürchte, dass ich hoffnungslos unfähig bin, mich anzupassen«, schrieb Clark Ashton Smith an den Dichter George Sterling, nachdem dieser eher ablehnend auf Smiths erste echte unheimliche Geschichte ›The Abominations of Yondo‹ reagiert hatte. »Doch kann ich mir jenen Glauben an materielle Werte einfach nicht aneignen, zu dem sich die Humanisten und die Babbitts (George F. Babbitt, Titelfigur des Romans Babbitt (1922) von Sinclair Lewis [Anm. d. Ü.]) bekennen. Oft wurde versucht, mich zu bekehren; doch vermag ich noch immer nicht einzusehen, dass das ›Unmögliche‹ – oder Zweifelhafte, Dunkle – zum Gegenstand der Poesie weniger taugt als andere Themen. Ja, mein liebster Traum ist es, im Reich der fantastischen Dichtkunst ein Hyperborea jenseits von Hyperborea zu finden. Ein Gefühl sagt mir, dass meine besten und originellsten literarischen Arbeiten ihrer Verwirklichung noch harren.«
Was Smith nicht voraussah, als er diesen Brief am 4. November 1926 schrieb, war, dass er sein Hyper-Hyperborea statt in der Lyrik in der Prosa finden würde. Und es sollte sein reger Briefwechsel mit H. P. Lovecraft sein, der ihn in diese neue Richtung lenkte.
Wäre Clark Ashton Smith nicht mit Howard Phillips Lovecraft in Verbindung getreten und dessen hypnotischem literarischem Einfluss erlegen, hätte er wahrscheinlich niemals seine legendären Weird Tales -Storys geschrieben. Und er hätte ganz sicher keine der hyperboreischen Erzählungen verfasst, die diesen Band zur Hälfte ausmachen.
Clark Ashton Smith betrachtete sich selbst in erster Linie als Dichter. Der bescheidene Ausflug, den er 1910 bis 1912 in die erzählende Literatur unternahm – eine Handvoll kurzer orientalischer Geschichten, die in unbeachteten Magazinen wie The Black Cat und The Overland Monthly erschienen – waren von geringer Bedeutung für den vielversprechenden jungen Mann, der 1912 im Alter von 19 Jahren mit der Veröffentlichung der Gedichtsammlung The Star Trader and Others internationale Anerkennung erwarb.
Doch zerschellte Smiths Komet als Dichter bald auf dem harten Boden der kommerziellen Realität. Ruhm war kein Brot, und Dichtkunst ernährt vielleicht die Seele, aber nicht den Menschen. Ein lobender Brief Lovecrafts vom August 1922 änderte für immer die Bahn von Smiths literarischer Karriere. Lovecraft war ein Bewunderer von Smiths Werk. Sie teilten miteinander das Interesse am Makabren und am Kosmischen. Daraus erwuchs ein reger Briefwechsel zwischen gleichgesinnten Geistern. Bald hatte HPL seinen Brieffreund dazu gebracht Weird Tales zu lesen, wo 1926 Lovecrafts bahnbrechende Cthulhu-Mythos-Story ›The Call of Cthulhu‹ erschien. Und es dauerte nicht lange, bis Smith sich wieder
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