Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
nicht schwer, dem Licht zu folgen – aber dann wäre ich blind. Jedes Mal, wenn ich hinfallen würde, kämen sie näher. Jedes Mal, wenn ich nicht genau wüsste, wohin ich treten soll, würde meinVorsprung kleiner werden.
Abgesehen davon bin ich nicht so verzweifelt. Noch nicht.
In der Dunkelheit verliere ich das Gespür für fast alles: wer ich bin, wo ich war, wie lange ich schon hier unten herumirre. Ich renne einfach, ein Schritt nach dem anderen und immer das Stöhnen und Ox’ R ufe hinter mir, konstant, nervtötend.
Ich überlege, ob ich mich in einen Riss in der Mauer drücken und an die Machete klammern soll. Ich würde warten, bis Ox vorbeirennt und dann zuschlagen. Zuerst würde ich ihm die Klinge hinten über die Beine ziehen, seine Sehnen verletzen und ihn zu Fall bringen. Dann würde ich ihm ins Gesicht treten und ihm den Todesstoß in den Nacken versetzen.
Meine eigenen bösartigen Gedanken lassen mich erschaudern. Könnte ich das wirklich tun? Ihm sein Leben nehmen?
Verdient hat er es, da bin ich sicher . A ber beim R ennen erinnere ich mich wieder an das Geräusch von Catchers Klinge, als sie durch Conalls R ückgrat schnitt.
Das war Mord. Eine Brutalität, die mich noch immer schwächt. Denn wo geht es hin mit mir, wenn ich diese Grenze überschreite? Ich bin noch nicht bereit, so eine Entscheidung zu treffen, deshalb stürze ich mich in die Dunkelheit. Solange ich in Bewegung bin, bin ich in Sicherheit.
Zumindest mache ich mir das vor.
Schließlich verändert sich die Luft imTunnel, ich bemerke einen Lichtschein hinter der nächsten Kurve, derTageslicht sein könnte. Mein Herz schlägt schneller.Verzweifelte Hoffnung keimt in mir auf – das könnte einWeg nach draußen sein.
Und dann bricht die R ealität ein und bringt mich zum Stillstand.Wenn da ein Ausgang ist, dann wird es von Ungeweihten wimmeln. Ein Schwarm von ihnen könnte unmittelbar vor mir sein. Schon dringt Stöhnen durch denTunnel, und es ist unmöglich herauszufinden, ob sie vor mir oder hinter mir sind.
In einer Hand halte ich die Machete, in der anderen die Laterne, so husche ich voran, zu allem bereit. Nach einigen Schritten wird die Decke höher, beschreibt einen eleganten Bogen über meinem Kopf, der Raum bekommtWeite und offenbart einen kurzen, mit Schnee bestäubten Bahnsteig.
Die Eiskristalle in der Luft schimmern, ich habe das Gefühl, einen heiligen Raum zu betreten. Buntglasfenster mit komplizierten Mustern sind in die Decke eingelassen, die meisten nur mit dickem Blei vergittert, bei einigen jedoch ist das Glas noch intakt. In der Station herrscht heilige Stille, in dem hohen Gewölbe zerstreuen sich die Geräusche meinerVerfolger und werden bedeutungslos.
R ennen hat etwas Profanes, aber ich habe keineWahl. Ich drücke mich an die gewölbteWand und hetze daran entlang, mein Blick gleitet über die braunen und grünen Fliesen in den Bögen und verfängt sich an einem der Fenster über mir.
Schon sehe ich, wie sie sich recken. Sehe die Risse.Wer weiß, wie viele Hände dagegen hämmern?Vor mir liegt noch einTunnel, ein schwarzer Abgrund, der bereit ist, mich zu verschlucken, aber ehe ich ihn betrete, ruft Ox meinen Namen.
Dass er hier ist, überrascht mich nicht, dass er allein ist schon. Seine eine Hand liegt auf dem Bahnsteig, die andere drückt er auf die Brust. Er steht einfach da, so als wäre er ganz sicher, dass ich ihm nicht weglaufe.
Und wenn ich es tun würde, er würde mich erwischen.
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H au ab!«, brülle ich und gehe rückwärts, weg von ihm. Schneewehen glänzen auf dem Bahnsteig und auf den Schienen, der Schnee ist durch die zerbrochenen Fenster gerieselt.
Das Blut braust noch immer durch meinen Körper und hält mich warm, aber meine Ohren brennen vor Kälte, mein Hals ist wund und schmerzt.
»Kann ich nicht.« Er hält sich die Brust. Jeder Atemzug strengt ihn an. »Ich habe den Männern versprochen, sie am Leben zu halten. Und dazu brauche ich dich.«
Ich schüttele den Kopf. »Selbst wenn du mich zurückschleifen würdest, ich lasse nicht zu, dass du Catcher bekommst.«
»So funktioniert das nicht«, sagt er. »Er hat oft genug bewiesen, dass er alles tut, was wir verlangen, damit du am Leben bleibst.Was glaubst du denn, woher wir wussten, wem wir drohen sollten, als er daran erinnert werden musste, die Arbeit für uns fortzusetzen?«
»Was?« Ich stolpere über ein Stück verrottetes Holz und bleibe stehen – bereit, entweder wegzulaufen oder zu kämpfen, je nachdem, was mich
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