Die Stadt der Toten: Ein Fall für die beste Ermittlerin der Welt (German Edition)
Abstellkammer voll mit Wasserflaschen hatte, die wollten wir uns holen. Die Leute mit Kindern, mit kleinen Babys, hatten nichts mehr zu trinken. Die Leute haben Wasser gebraucht, und was zu essen für die Kinder und so. Ich habe Bier und Wasser mitgenommen, solche Sachen. Aus Vics Wohnung und aus der seiner Nachbarin. Aus beiden. Ich habe mitgenommen, was ich tragen konnte. Und ich hab die Vögel gefüttert.« Er lachte leise und schüttelte den Kopf. »Ich hab Grund genug, ein schlechtes Gewissen zu haben, aber nicht deswegen. Damals bin ich in viele Häuser eingebrochen. Es tut mir kein bisschen leid.«
Ich sah ihn an. Langsam dämmerte mir, was er da sagte. »Wo bist du sonst noch eingebrochen?«, fragte ich.
»Ich und ein paar von den Jungs«, sagte er. »Bei Walgreen’s in der Magazine Street. Ins Sav-A-Center und in den Biosupermarkt – mein Gott, was für ein verrückter Laden! Wir haben Wasser, Saft, Essen, Babyzeug mitgenommen. Wir haben uns jeder einen Einkaufswagen geschnappt und bis nach Downtown geschoben. Einer von den Jungs hatte ein Auto, das haben wir beladen, aber irgendwann hat er die Stadt verlassen, und uns blieben nur die Einkaufswagen. Wir hätten Autos knacken können, aber es gab ja kein Benzin mehr. Als die Supermärkte leer waren, sind wir in die Häuser eingestiegen – Wohnungen, von denen wir wussten, dass es einfach wird, so wie bei Vic. Die Leute brauchten was zu essen – die Alten, die Kinder. Die Leute waren am Verhungern. Wir konnten doch nicht zusehen …«
Er schüttelte den Kopf und schluckte und sagte nichts mehr.
»Das hast du also getan«, sagte ich. »Andray, das war kein Diebstahl, so was nennt man …«
Ich wusste nicht, wie man das nannte. Andray zuckte die Achseln.
»Warum hast du Vics Vögel gefüttert?«, fragte ich.
Andray verzog das Gesicht, als hätte ich etwas besonders Dummes gesagt. »Das sind nicht seine Vögel«, sagte er, »das sind einfach Vögel. Ich meine, die müssen schließlich auch was essen.«
Er hatte recht. Ich hatte etwas Dummes gesagt.
»Wer war der Junge vor dem Restaurant?«, fragte ich. »Warum wollten die Typen ihn umlegen?«
Andray zuckte die Achseln. »Das war niemand. Ich meine, ich weiß zwar, wie er heißt, aber er hat mit Ihnen nichts zu tun. Warum die das gemacht haben, weiß ich auch nicht. Ich glaube, die denken, er wäre ein Polizeispitzel. Das gibt es hier tatsächlich. Manche Leute kriegen einen Job und so und vergessen plötzlich, wo sie herkommen. Man denkt, man käme hier raus, aber das geht nicht. Nie.«
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Willst du hier raus?«
Er nickte. »Echt«, sagte er, »ich habe die Schnauze voll. Wirklich.«
»Du könntest ihn mitnehmen«, schlug ich vor. »Terrell. Du müsstest ihn nicht alleinlassen.«
Andray nickte. Er glaubte mir kein Wort.
Ich glaubte mir selbst kaum.
»Mick will dir helfen«, sagte ich. »Du brauchst seine Hilfe bloß anzunehmen.«
Andray zuckte die Achseln. Ich spielte mit dem Gedanken, ihm Micks individuelles wie kollektives Schuldgefühl zu erklären, dachte mir dann aber, dass er darüber längst Bescheid wusste.
»Hör mal«, sagte ich. »Mick geht es gerade nicht so gut. Depressionen. Aber es würde ihm helfen, wenn ihr euch helfen lasst. Ich weiß auch nicht, warum das so ist, ich habe solche Leute nie verstanden. Aber wenn du ihm erlaubst, dir einen Job zu suchen oder so was, würdest du ihm einen Riesengefallen tun.«
»Ja, okay.« Andray nickte. »Er möchte, dass ich bei diesem Programm für Schulabbrecher mitmache. Ich habe drüber nachgedacht. Manchmal …« Er hielt inne. »Manchmal habe ich bei Mister Mick das Gefühl … Ich weiß auch nicht. Es ist so, als wäre ich für ihn ein Versuchskaninchen oder so. Als müsste er sich was beweisen oder so. Nicht, dass ich ihm nicht dankbar wäre …«, fügte er hastig hinzu.
»Nein, ich weiß sehr gut, was du meinst«, sagte ich. »Aber weißt du, du könntest ihm genau das sagen. In netten Worten, so, wie du es mir gesagt hast. Sicher hätte er Verständnis.«
Andray nickte. »Ja. Okay.«
»Du bist ein cleverer Junge«, sagte ich. »Es wäre ein Kinderspiel für dich, den Schulabschluss nachzuholen. Du solltest Lesen üben, der Rest kommt dann von ganz allein.«
»Ich kann lesen«, verteidigte Andray sich. Das stimmte, ich hatte das beobachtet, aber er las langsam und mit Mühe.
»Wie ist das Buch, das Vic dir gegeben hat?«, fragte ich.
»Okay«, sagte er. »Ich meine, es ist schwierig.
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