Die Stadt der verkauften Traeume
ihr Leben gab, oder dass sie sich freiwillig dafür entschieden hätte. Wir möchten nicht, dass sie als Märtyrerin in Erinnerung bleibt. Was ich sagen möchte, ist Folgendes: dass Gloria, indem sie versucht hat, ihr Bestes zu geben, und ihre Zeit dafür geopfert hat, etwas für andere zu tun, wahre Nächstenliebe gezeigt hat.«
Trotz des lauter werdenden Gemurmels im Saal redete Lily weiter, jetzt ein weniger rascher. »Barmherzigkeit hat nichts damit zu tun, sich das Gefühl von Tugendhaftigkeit zu erkaufen; Mitgefühl ist nichts, was man messen kann. Es ist da, wenn wir nicht darauf aus sind, unter allen Umständen das beste Geschäft zu machen, wenn wir aufhören, andere Menschen lediglich als Händler oder als Ware zu sehen, sondern wenn wir sie als Menschen sehen, die es verdient haben zu leben. Barmherzigkeit weiß, dass Menschlichkeit mehr wert ist als nur der Marktwert.«
Jetzt drehte Lily den Kopf und sah Pauldron an, der ihren Blick kalt und ohne zu blinzeln erwiderte. »Wir glauben, dass das für alle Menschen gilt, sogar für einen Mörder. Wir wollen sein Leben nicht. Wir verlangen nur, dass ihm Zeit und ein Ort gewährt werden, damit er seinen verwirrten Geist heilen kann.«
Jetzt wurde es im Publikum laut. Entrüstet und verwirrt sprangen zahlreiche Zuschauer auf. Lily sah etliche den Saal verlassen, während andere erschüttert oder überrascht sitzen blieben. Als sie nach oben blickte, sah sie dort eine reglose Gestalt. Mark saß da und wartete. Er wusste, dass sie noch nicht fertig war. Theo hatte ihr einmal gesagt, dass sie manchmal einen Ausdruck in den Augen hatte, bei dem keiner wegsehen konnte, und mit diesem Blick wandte sie sich jetzt dem Gericht zu. Alle verharrten wie vom Donner gerührt, verstummten und richteten ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf Lily.
»Ich weiß, wie schockierend das für Sie sein muss. Vielleicht ist das im Allgemeinen in Agora nicht üblich. Aber denken Sie daran«, sie zeigte mit dem Finger auf den reuelosen Pauldron, »genau das war es, was er gesagt hat. Das war seine Rechtfertigung dafür zu glauben, dass ein Leben nichts wert sei. Wir glauben, dass das Leben mehr wert ist als alles andere.« Lily hielt inne, nahm das Schweigen in sich auf und wartete, bis ihre Stimme im Saal verhallt war. »Entscheiden Sie selbst: Möchten Sie in seinem Agora leben oder in unserem?«, fragte sie und sah sich um. »Wie viel sind Sie sich selbst wert?«
Lily setzte sich.
Lily lehnte sich erschöpft zurück, während Lord Ruthven den Fall zusammenfassend zu einem Ende brachte. Fast ein wenig entrückt sah sie zu, wie Pauldron hinausgeführt wurde. Sein Ausdruck blanken, unstillbaren Hasses brannte immer noch in ihr. Erst als ein Schatten auf sie fiel und sie in das vornehme Gesicht des Lordoberrichters blickte, stand sie auf. Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Eine äußerst temperamentvolle Darbietung, Miss Lilith«, sagte er mit vordergründig freundlicher Stimme, in der jedoch unverkennbar Überheblichkeit mitschwang. »Damit haben sie uns allen einiges zum Nachdenken gegeben.«
Lily nahm vorsichtig seine Hand, lächelte aber nicht zurück. »Ich werde die Wahrheit schon noch herausfinden«, sagte sie.
Lord Ruthvens Händedruck verstärkte sich ein wenig, aber seiner bemüht ausdruckslosen Miene war nichts anzumerken.
»Miss Lilith, ich berufe mich in dieser Angelegenheit auf das Siegel des Direktors. Kein anderer als er selbst kann diese Entscheidung wieder aufheben.« Er zog seine Hand zurück und wischte sie säuberlich an seiner Robe ab. »Unsere Vereinbarung ist Ihnen bekannt. Dafür, dass wir geflissentlich übersehen, dass Sie unbefugt in ein privates Versammlungshaus des Waage-Bundes eingedrungen sind, ist es Ihnen und Ihren Freunden untersagt, genauere Angaben darüber zu machen, was sie dort vorgefunden oder erfahren haben.« Seine Augen verengten sich, und er beugte sich näher heran. »Der Waage-Bund erfreut sich etlicher Privilegien, einschließlich des Rechts, Leute ohne öffentliche Verhandlung festzusetzen. Erweisen Sie sich als vernünftige junge Dame, und mischen Sie sich nicht in unsere Angelegenheiten ein.« In dem Glauben, damit das letzte Wort gesagt zu haben, ging er davon.
Aber Lily eilte ihm nach und stellte sich ihm in den Weg.
»Die öffentliche Verhandlung ist vorbei, Lord Ruthven«, hakte sie nach. »Nur noch wir beide sind hier.« Sie verschränkte die Arme. »Sagen Sie mir, was das Mitternachts-Statut ist?«
Lord Ruthven
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