Die Stadt der verkauften Traeume
Schriftrolle. Das Zeichen des Direktors.
»Mein Großvater wurde vor zehn Jahren auf Lebenszeit zum Vorstand seiner Gilde gewählt«, fuhr Theo fast flüsternd fort. »Ich glaube nicht, dass er den Direktor besonders wertschätzte. Jedenfalls hielt er es nie für nötig hinzugehen.« Er klopfte mit einem schlanken Finger nachdenklich auf die Schriftrolle. »Es bedurfte einiger Erklärungen. Ich konnte nicht so tun, als wärst du mit den Geschäften der Sterndeuter betraut, und ich konnte auch nicht sagen, warum der Graf nicht persönlich vorsprechen möchte.« Er warf einen Blick zu dem alten Mann, der mit ausdruckslosem Gesicht in einem Stuhl am anderen Ende des Raumes saß. »Aber letztendlich halten mich die Leute meistens doch für harmlos …«
Er legte die Schriftrolle auf den Altar vor ihnen. Lily starrte sie an. Ein Termin beim Direktor persönlich. Ihr Hals wurde trocken. Es war so, als sollte man einer leibhaftigen Sagengestalt begegnen. Dem Mann, der die Welt regierte, der die Faden der gesamten Stadt in Händen hielt, demjenigen, der jedes Geheimnis kannte.
Sie streckte die Hand aus. Und hielt inne.
»Warum?«, fragte sie.
Theo rümpfte die Nase. »Deine Dankbarkeit ist rührend«, murmelte er und wandte sich ab.
Lily legte eilig eine Hand auf seine Schulter. »Ich meine doch nicht … Ich … danke dir, das ist mehr, als ich mir hätte träumen lassen, aber … wenn du nicht willst, dass ich gehe …«
»Das will ich nicht«, sagte Theo und schaute immer noch in die andere Richtung. »Keiner von uns will das.«
»Ich komme ja wieder. Ich gebe nichts darauf, was die Legenden besagen. Sie können mich ja nicht einfach verschwinden lassen.«
Theo drehte sich wieder um. Seine Augen sahen unsagbar traurig aus. »Großvater war nicht der Mann, der Gutenachtgeschichten erzählte. Aber einmal, als ich noch klein war, hat er mir etwas erzählt. Er sagte mir, dass Agora Geheimnisse berge, die einen zerstören könnten, wenn man sie nur hörte. Geheimnisse, die einen in den Wahnsinn treiben. Geheimnisse, die einen verschwinden und niemals wieder zurückkehren ließen.« Theo lachte bitter. »Wer weiß, vielleicht ist deshalb ein solcher Feigling aus mir geworden.«
»Du bist kein Feigling, Theo«, erwiderte Lily, »du bist ein Heiler.«
»Ich war ein Überlebender. Ein Überlebender, der ein paar anderen beim Überleben helfen wollte. Aber ich hatte nie den Mut, etwas zu verändern.« Er seufzte. »Wir würden nicht nur dich verlieren, Lily. Ich weiß nicht, ob das alles hier ohne dich lange bestehen bleibt. Auch ich bin in deiner Gesellschaft ein besserer Mensch.«
Lily blickte den Doktor ungläubig an. Es war eigenartig, ihn so zu sehen, wenn er sie wie ein verlorenes Kind anschaute. Trotzdem war es derselbe Mann, der sich nie beschwert hatte, der sich aufgemacht hatte, Patienten zu behandeln, zahlende genauso wie Schuldner, auch dann, wenn es ihnen selbst schlecht ging und sie nur einen oder zwei Tage davon entfernt waren, selbst zu Schuldnern zu werden. Der Mann, der der einzige Rettungsanker in ihrer Welt gewesen war, seit sie durch die Türen des Turmes gestoßen worden war. Der unermüdliche Doktor Theophilus, der Arzt, der alle und jeden heilte.
»Wenn du mir sagst, dass ich nicht gehen soll, dann gehe ich nicht«, erklärte sie schließlich. »Du bist immer noch mein Herr, so steht es im Vertrag.« Ihr Blick durchbohrte ihn förmlich. »Aber du musst es mir befehlen. Ich muss wissen, dass ich keine Wahl habe.«
Theo schüttelte den Kopf. »Ich bin schon lange nicht mehr dein Herr, das weißt du genauso gut wie ich.«
Einen Moment lang betrachteten beide die Schriftrolle, deren schwarzes Siegel im winterlichen Licht funkelte, das durch die Buntglasfenster fiel. Lily hob den Blick und sah sich in dem Almosenhaus um, das sie gegründet hatte, eine Idee, die vor einem Jahr in die Tat umgesetzt worden war, etwas, das, wie sie glaubte und hoffte, nicht mehr aus der Welt zu schaffen war.
Sie legte eine Hand auf die Schriftrolle.
Theo wandte sich ab. »Der Termin ist in drei Tagen«, sagte er leise, »zur zwölften Stunde des Tages.« Er ging durch den Raum und nahm fahrig seinen Ausgehmantel vom Haken. »Dann … dann mache ich mal meinen Rundgang und schaue in den Elendsvierteln nach dem Rechten.«
»Theo …«, sagte Lily, aber der Arzt unterbrach sie.
»Ich habe keine Zeit zum Reden, tut mir leid«, rief er und warf sich den Mantel in ungewöhnlicher Eile über. »Ich muss Leben retten,
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