Die Stadt der verkauften Traeume
Stirn. In der letzten Zeit hatten sich zu viele seltsame Dinge ereignet. Sie hatte versucht, sie zu vergessen und sich in ihre Arbeit zu stürzen, aber sie ließen ihr keine Ruhe. In ihren Träumen sah sie nun dunkle Schatten, die sie und Mark umzingelten, Messer, die in der Dunkelheit aufblitzten; sie sah die goldenen Waagen des Waage-Bundes in ihre Hände und Stirnen eingebrannt.
»Was glaubst du, Theo«, fragte sie leise, »wie tief diese Krankheit geht?« Sie versuchte, eine Antwort in seinen mitleidigen Augen zu lesen. »Wie krank ist unsere Stadt?«
Theo gab zunächst keine Antwort. Nachdenklich fuhr er sich mit einem Finger über den Schnurrbart. »Wir können nicht alles allein lösen, Lily«, sagte er schließlich.
»Ich habe nur manchmal das Gefühl, dass wir lediglich die Symptome behandeln, nicht die Krankheit.«
»Wir leisten bereits so viel. Du wusstest doch, dass es sich nicht von einem Tag auf den anderen verändert …« Theo verstummte und sah sie neugierig an. »Es geht nicht um das Almosenhaus, oder?«
Lily griff in ihre Schürzentasche und zog etwas hervor, das sie dort seit jener Nacht im Uhrwerkhaus versteckt gehalten hatte. Sie hielt den Edelstein vor sich in die Höhe und sah zu, wie er das vielfarbige Licht, das durch die Buntglasfenster hereinfiel, in sich aufzusaugen schien.
»Es gibt so viele Geheimnisse, Theo«, sagte sie, »so viele Lügen.« Sie reckte entschlossen das Kinn. »Ich kann nicht länger mit diesem Halbwissen leben. Es ist mir egal, ob Lord Ruthven diese Angelegenheit totschweigen will. Selbst wenn ich ihn übergehen und mir meinen Weg bis ins Direktorium bahnen muss – ich muss es wissen.«
»Ist denn Wissen so viel wert, Lily?«, fragte Theo im Ton leiser Verzweiflung. »Du bist noch so jung. Können wir denn nicht mit dir suchen? Langsam und vorsichtig?«
Lily schüttelte den Kopf und umklammerte den Edelstein ganz fest. »Das verstehst du nicht, Theo. Das hier ist mein einziger Hinweis. Ich glaube, es ist einer der Edelsteine, die zusammen mit mir im Waisenhaus zurückgelassen wurden. Ich habe mich umgesehen; es gibt keine anderen wie diese in der ganzen Stadt. Die Waage-Leute müssen über mich Bescheid wissen, müssen wissen, wer ich bin, wer meine Eltern waren, wissen, was dieses Statut besagt oder nicht besagt. Ich muss wissen, warum das alles geschieht, Theo, und das Statut kann womöglich alle meine Fragen beantworten. Oder meinst du, ich soll einfach darauf warten, dass mich irgendwann wieder jemand umbringen will?«
»Stattdessen hast du vor, diejenigen zu finden, die dir den Tod wünschen?«, fragte Theo. »Scheint mir nicht gerade vernünftig zu sein.«
»Zumindest kommen ihnen dann keine meiner Freunde mehr in die Quere«, sagte Lily.
»Glaubst du nicht, dass wir dich hier brauchen?«, entgegnete Theo hitzig. »Ist dir die Wahrheit wichtiger als das Almosenhaus und alle, die es so dringend benötigen? Ist es wichtiger als wir?«
Einen Augenblick wusste Lily nicht, was sie antworten sollte. So hatte sie Theo noch nie gesehen, halb wütend, halb flehend. Sie versuchte, ihre Gefühle in die richtigen Worte zu kleiden.
»Was ist, wenn diese Wahrheit etwas Schreckliches ist, Theo?«, erwiderte sie schließlich. »Pauldron hat gesagt, Mark und ich würden Agora zerstören. Ich weiß nicht wie, und weiß auch nicht, warum ausgerechnet wir, aber solange du und Laud und Ben hier seid … Ich könnte euch in Gefahr bringen. Wenn ich weiß, was vor sich geht, kann ich wenigstens eine Entscheidung treffen.«
Sie sahen einander an. Die üblichen Geräusche des Almosenhauses – das Stöhnen der Hungrigen und Verzweifelten -waren auf einmal weit entfernt. Theo schien sich eine Entscheidung abzuringen.
»Dann will ich dir ein Geheimnis verraten«, sagte er schließlich. »Es gibt diejenigen, die behaupten, dass der Direktor nie jemanden empfangt, dass sein Blick über ganz Agora reicht, an jeden Ort, an dem ein Geschäft gemacht oder ein Vertrag besiegelt wird.« Er lächelte wehmütig. »Vielleicht stimmt das, wer weiß? Aber der Direktor empfängt sehr wohl Leute. Die Gildenmeister, die Reichen und Mächtigen, sie alle werden gelegentlich vorgeladen, und alle diese einflussreichen Männer und Frauen dürfen von sich aus einen Termin machen, ein Mal im Leben.«
Theo griff in die Tasche seines fleckigen dunklen Mantels und zog daraus eine winzige, mit schwarzem Wachs versiegelte Schriftrolle hervor. Das Symbol im Wachs war unverkennbar: eine entrollte
Weitere Kostenlose Bücher