Die Stadt der verkauften Traeume
derartiges Entgegenkommen nicht gewohnt. Nachdem er sich wieder gefangen hatte, nickte er schroff und trat, gefolgt von seinem Sergeanten, ein.
»Dürfen wir Ihnen irgendetwas anbieten?«, fragte Lily mit zuckersüßer Stimme.
»Oder Ihnen vielleicht die Mäntel und Hüte abnehmen?« Benedikta gesellte sich lächelnd zu ihnen und zupfte an dem mitternachtsblauen Ärmel des Sergeanten.
Der Sergeant zuckte erschrocken zurück. »Soll das ein Trick sein?«, fragte er und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Allein der Versuch, einen Eintreiber zu bestehlen ist strafbar nach …«
»Nein danke«, fiel ihm der Inspektor barsch ins Wort und bedachte ihn mit einem verdrossenen Blick. »Vergessen Sie nicht, Sergeant Pauldron, dass gegen diese jungen Damen derzeit keine Klage erhoben wird. Außerdem bin ich mir sicher, dass keine Gefahr besteht, dass Sie von ihnen überwältigt werden.«
Lily glaubte, den Anflug eines Lächelns um die Lippen des Inspektors spielen zu sehen. Außerdem war sie angenehm davon berührt, als »Dame« bezeichnet zu werden. Sie war offiziell erwachsen, seit sie zwölf war, doch mit Ausnahme von Theo hatten bisher nur wenige Leute sie besser behandelt als ein um Aufmerksamkeit heischendes Kind. Das angenehme Gefühl verflog jedoch rasch, als der Inspektor seinen Blick durch den Tempel wandern ließ.
Lily folgte seinem Blick. Sie hatten hier drinnen nicht viel verändert. Da standen immer noch die Tische, die Theo für die Untersuchungen aufgestellt hatte, und nachdem der Versuch fehlgeschlagen war, beim durch die fleckigen Glasfenster hereinfallenden Licht zu operieren, hatten sie ein paar zusätzliche Öllampen aufgehängt. Der Sergeant untersuchte derweil, wie Lily jetzt sah, das Taufbecken auf der anderen Seite des Raums. Er roch daran und zuckte überrascht zurück. Bei seinem erschrockenen Gesichtsausdruck musste Lily ein Lachen unterdrücken.
»Medizinischer Alkohol, Sergeant«, rief sie hinüber. »Ganz wichtig zur Reinigung von Wunden. Wenn sie es überprüfen möchten, kann ich Ihnen das Rezept dafür zeigen.«
Der Sergeant verzog das Gesicht und fing an, mit den Händen über die Kirchenbänke zu fahren. Lily widmete ihre Aufmerksamkeit wieder dem Inspektor. Er war ganz anders als sein Sergeant. Er suchte nur mit den Augen, aber Lily zweifelte nicht daran, dass er viel mehr Dinge entdeckte. Tatsächlich war er es, der auf das zuletzt Angeschaffte stieß.
»Ich weiß nicht, wie viele Patienten Sie haben, Miss Lilith«, sagte er und schaute in eine Ecke, »aber es müssen viele sein. Der Kochtopf, den sie da stehen haben, ist riesig.«
»Der ist für ganz besondere Patienten«, sagte Lily leise, sah ihm in die Augen und wählte ihre Worte sorgfältig. »Er ist dafür da, die zu heilen, deren einzige Krankheit Hunger ist.«
»Das kommt mir doch eher wie ein Schritt zurück vor, oder nicht?«, bemerkte der Inspektor. »Ein kluges Mädchen, Gehilfin eines Doktors, kocht Essen für Schuldner? Meine Frau würde so etwas bestimmt nicht dulden. Sie ist auch Eintreiberin.«
»Wenn man eine Begabung hat, setzt man sie ein«, erwiderte Lily. »Zeigen Sie mir einen, der willig ist und fähig dazu, und ich werde die Aufgabe gern an ihn abtreten.«
Der Inspektor nickte. Die Antwort schien ihn zufriedenzustellen.
»Pauldron!«, rief er. Der Sergeant legte einen alten Weihrauchkessel weg, den er misstrauisch untersucht hatte.
»Sir?«
»Machen Sie Notizen zu dieser Unterhaltung.«
Pauldron zog mehrere Blätter Papier und einen Stift hervor. Den Kohlestift setzte er erwartungsvoll auf das erste Blatt. Der Inspektor räusperte sich.
»Ermittlungen im …« Er hielt stirnrunzelnd inne. »Wie nennt man dieses Gebäude noch mal?«
»Ein Almosenhaus. Für die Armen«, sagte Lily deutlich. »A-L-M-O-S-E-N«, buchstabierte sie nach einem flüchtigen Blick auf den Zettel des Sergeanten, »nicht Almrosen.«.
»Untersuchung des Almosenhauses in der Tempelstraße. Inspektor Greaves und Sergeant Pauldron vor Ort im Einsatz.« Der Inspektor schob die Unterlippe vor. »Miss Lilith, dieses Gebäude scheint für manch eigenartige Machenschaften genutzt worden zu sein. Für mich sieht es aus wie ein Tempel, wie sie vor einigen Zyklen groß in Mode waren. Ich glaube, dort wurde etwas verkauft, das ›Erleuchtung und Spiritualität‹ genannt wurde …« Der Inspektor schob die Worte im Mund hin und her, als hätten sie einen eigenartigen Geschmack. Dann zuckte er die Achseln. »Die Sache hat sich nie
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