Die Stadt der verkauften Traeume
erinnerte ihn daran, dass er seit mindestens vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte. Er spürte, dass Snutworth ihm etwas in die Hand drückte, ein kleines Fläschchen, das mit einer meergrünen Flüssigkeit gefüllt war. In das Glas war etwas eingeritzt: Ruhe.
»Was ist das?«
»Etwas sehr Nützliches«, antwortete Snutworth und kniete sich neben ihn. »Reines Gefühl, destilliert und zur Weiterverwendung vorbereitet. Ich hab immer etwas davon bei mir. Ein alter Freund von mir ist in dem Geschäft tätig. Sehr hilfreich bei Aufregung und großer Anspannung.«
Mark betrachtete die Flasche, die nicht größer war als sein kleiner Finger. Es kam ihm so einfach, so bequem vor. Vielleicht zu einfach.
»Nein danke«, sagte er und schob das Fläschchen von sich. »Ich glaube, ich brauche einfach nur ein wenig Schlaf.«
»Wie Sie wünschen, Sir«, erwiderte Snutworth und ließ die Flasche wieder in die Tasche gleiten. »Vielleicht ein andermal. Wenn Sie sich zurückziehen möchten, setze ich inzwischen ein paar Vorschläge für Ihre ersten Anschaffungen auf.«
»Schlafen Sie denn nie, Snutworth?«
»Nicht wenn die Geschäfte meines Herrn meiner Dienste bedürfen.« Snutworth sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Nicht wenn die Zukunft so viel für uns bereithält.«
Mark musterte seinen neuen Assistenten, wie er, eingerahmt vom hereinfallenden Licht der Morgensonne, vor ihm stand. Zum ersten Mal sah er das Observatorium bei Tageslicht: Die Samtvorhänge waren zurückgebunden, das Messingteleskop blinkte. Und durch die Fenster sah er, dass sich unten vor dem Turm bereits eine Menschenmenge versammelt hatte und darauf wartete, eingelassen zu werden.
»Ich sage Ihnen, dass sie am Nachmittag wiederkommen sollen, Sir«, schlug Snutworth vor.
Mark nickte nur gedankenverloren. Eigentlich träumte er bereits. Er träumte von dem neuen Leben, das sich mit einem Mal vor ihm aufgetan hatte. Er besaß Reichtum, Anerkennung, sogar Einfluss und Macht.
Er konnte alles tun.
Und genau das hatte er auch vor.
KAPITEL 12
Der Plan
Es dauerte eine Woche, bis die Eintreiber kamen.
Lily hatte jeden Tag auf sie gewartet und sich gefragt, ob sie sich ankündigen oder einfach irgendwann mit einem Haftbefehl hereinstürmen würden. Sie hatte keine Ahnung, denn sie wusste nicht einmal, ob das, was sie tat, überhaupt gegen das Gesetz verstieß. Als sie dann dieses amtliche Klopfen an der Tür hörte, verspürte sie als Erstes – Erleichterung.
Sie schaute kurz zu Benedikta hinüber, die an der gegenüberliegenden Seite des Raums gerade dabei war, die Decken einzusammeln, die sie über den alten Kirchenbänken ausgebreitet hatten. Sie warf dem rothaarigen Mädchen einen ermutigenden Blick zu und strich beklommen die fleckige Schürze glatt, die sie über ihr Kleid gezogen hatte. Beide Kleidungsstücke gehörten zu Signora Sozinhos abgelegten Sachen und waren nicht nur für Erwachsene, sondern wirkten auch ein bisschen zu groß und auch zu vornehm für ihre Arbeit. Lily machte sich bereit und versuchte, sich zu beruhigen. Sie musste geschäftig wirken und sich so alt verhalten wie möglich. Es klopfte erneut, diesmal lauter und eindringlicher. Lily richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und machte sich auf den Weg zur Tür.
Kaum hatte sie geöffnet, wurde ihr auch schon ein amtlich wirkendes Schriftstück, versehen mit dem Siegel des Direktoriums, eine aufgerollte Papierrolle, ins Gesicht gestreckt. Sie machte einen Schritt zurück, um die Ermächtigung zu lesen, und warf dabei einen Blick auf den Mann, der sie ihr entgegenhielt. Der Eintreiber hatte markante Gesichtszüge und trug die glänzende Silberbrokatuniform eines Inspektors. Sein Gesichtsausdruck war ermutigend: missbilligend, aber nicht direkt feindselig. Zumindest nicht so feindselig wie das des jüngeren Sergeanten hinter ihm, der mit offensichtlichem Ekel durch den Eingang spähte und die Nase rümpfte, als halte er Lily für hochgradig ansteckend.
»Im Namen des Empfangsdirektoriums«, verkündete der Inspektor, und man hörte ihm an, dass er diese Worte schon viele Male ausgesprochen hatte, »sind wir befugt, dieses Gebäude auf den Verdacht illegaler Vorgänge hin zu überprüfen. Sie haben kein Recht, sich zu widersetzen, und …«
»Aber selbstverständlich, meine Herren«, unterbrach Lily, »kommen Sie doch herein.«
Lily spürte einen Anflug von Belustigung, als der Inspektor seinen Redeschwall verdutzt beendete. Offensichtlich war er
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