Die Stadt der verkauften Traeume
sogar etwas Neues beibringen«, fügte Benedikta hinzu. »Sie würden staunen, wie viele Leute nicht lesen können. Nicht einmal Verträge.«
Der Inspektor runzelte die Stirn. »Sehr ungewöhnlich und wahrscheinlich sinnlos, aber es ist nicht unsere Aufgabe, den Unternehmungsgeist der Leute zu bremsen«, murmelte er und strich sich übers Kinn. »Da wäre aber noch eine Sache: Warum haben wir diesbezüglich keine Verträge erhalten? Ich habe gehört, dass hier vergangene Nacht eine ziemliche Menschenansammlung war, und es werden noch mehr erwartet, also müssten für uns jede Menge Verträge bereitliegen.«
Lily holte tief Luft. Das war jetzt der schwieriger zu erklärende Teil. »Es gibt keine Verträge.«
Der Stift des Sergeanten bewegte sich nicht mehr. Die Stille war ohrenbetäubend.
Der Inspektor beugte sich vor. »Keine Verträge?«, fragte er. »Wie wollen Sie dann gewährleisten, dass diese Leute Ihnen geben, was sie Ihnen für die Dienstleistung schulden?«
»Wir verlangen nichts dafür, Sir«, sagte Lily mit leiser, fester Stimme. »Wir geben ihnen unser Essen und unsere Kenntnisse ohne Entgelt.«
Diesmal sah selbst der Inspektor erschüttert aus. Er holte Luft, als wollte er etwas sagen, schien es sich jedoch anders zu überlegen.
Sergeant Pauldron dagegen war nicht so zurückhaltend. Er warf seine Notizen zu Boden. »Hab ich es Ihnen nicht gesagt, Sir?«, rief er rot vor Wut. »Genau das habe ich vermutet! Dass hier die Grundpfeiler untergraben werden, auf denen Agora steht …«
»Vielen Dank, Sergeant«, erwiderte der Inspektor rasch, doch diesmal ließ sich Pauldron nicht zum Schweigen bringen.
»Glauben Sie etwa, dass es dabei bleibt, Sir?«, fuhr er fort und wurde dabei immer lauter. »Sobald es sich herumspricht, dass man Schuldner sein kann und trotzdem irgendwo etwas zu essen kriegt, will doch niemand mehr arbeiten oder Handel treiben oder …«
»Das reicht!« Der Inspektor hob kaum die Stimme, trotzdem schien sie plötzlich im Tempel widerzuhallen. Sergeant Pauldron verstummte sofort. Der Inspektor runzelte die Stirn. »Sie regen sich wieder zu sehr auf, Pauldron. Machen Sie eine Pause, wir sehen uns dann am Nachmittag in der Kaserne. Ich kümmere mich hier um alles Weitere.«
Der Sergeant sah aus, als wollte er widersprechen, aber der Inspektor drehte sich einfach weg. Mit finsterer Miene machte der Sergeant eine steife Verbeugung und öffnete die Tür. Draußen klopfte er die Stiefel ab, als ob selbst der Staub auf dem Boden verseucht wäre.
Nachdem der Sergeant gegangen war, setzte sich Inspektor Greaves und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah Lily, dass seine Fassung wiederhergestellt war.
»Sergeant Pauldron ist ein junger Mann mit sehr viel Engagement für seine Arbeit und für unsere glorreiche Stadt«, begann er, beugte sich zur Seite und hob die Notizen auf. »Wie dem auch sei, er hat nicht ganz unrecht. Unser System basiert auf Handel und Tausch. Ohne das käme alles zum Stillstand. Und genau das macht dieses Haus verdächtig. Sehr verdächtig.«
Lily fing Benediktas Blick auf und sah, dass sich ihre eigene Anspannung darin spiegelte. Wenn die Eintreiber den Tempel schließen wollten, konnten sie das tun. Sie würden sie noch nicht einmal entschädigen müssen.
»Beantworten Sie mir nur eine Frage, Miss Lilith«, fuhr der Inspektor fort. »Ist es Ihr Essen, von dem diese Hundertschaften ernährt werden? Sind es allein Ihre Besitztümer, die unter Tausenden von Schuldnern verteilt werden?«
Eilig zog Lily einen versiegelten Vertrag aus ihrer Schürzentasche und reichte ihn dem Inspektor.
»Signor und Signora Sozinho haben sich bereit erklärt, uns regelmäßig mit Kunstgegenständen zu versorgen, die wir gegen Lebensmittel und Decken eintauschen können. Sie wollten dafür lediglich Gewissheit haben, dass sie anderen helfen, so wie wir ihnen geholfen haben. Sie sind unsere ersten Förderer und im Augenblick unsere einzigen. Wir versuchen, andere zu ermuntern, es ihnen gleichzutun.«
Lily sah zu, wie der Inspektor den Vertrag überflog. Sein Blick verweilte auf dem Siegel der Sozinhos, das mit Noten übersät war. Dann rollte er das Papier wieder zusammen.
»Darf ich offen sprechen, Miss Lilith?«, fragte er.
Lily sah den Inspektor an. In seinen Augen lag ein neugieriger Schimmer, als wollte er jedes Wort, das sie gesagt hatte, auseinandernehmen und sie überprüfen, um herauszufinden, ob sie der Aufgabe, die sie sich selbst gestellt
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