Die Stadt der verkauften Traeume
sich mitten zwischen die nächtlichen Zecher, spürte, wie sie ihr auf Rock und Füße traten.
Mit einem Blick nach hinten sah sie ihre Verfolger näher kommen, sah, dass sie ihr bis in die fremde Meute folgten. Einige schreckliche Augenblicke lang konnte sie sich nicht bewegen, eingeklemmt zwischen zwei riesigen betrunkenen Männern, aber dann rammte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, den Ellbogen gegen die nächste Brust. Der Mann drehte sich ärgerlich um und schüttelte drohend die Fauste, aber Lily ließ sich zu Boden fallen und kroch eilig durch den Morast, um dem aufflammenden Streit auszuweichen, den sie ausgelöst hatte. Zitternd duckte sie sich in die Riegelstraße und ließ ihre Verfolger inmitten der Prügelei zurück. Als sie stehen blieb, um Atem zu schöpfen, sah sie vor sich erneut Lord Ruthven. All ihre Sinne rieten ihr umzukehren, ermahnten sie, dass es zu gefährlich sei weiterzugehen.
Wie in Trance nahm sie die Verfolgung wieder auf.
Die schmale Straße mündete auf einen Platz. Lily hörte das Wasser der Ora träge und schwerfällig gegen das Ufer schwappen. Sie vermutete, dass sie sich irgendwo am anderen Ende der Stadt befand, dort, wo die Ora verschwand und allem Anschein nach mit der gewaltigen Masse der riesigen grauen Stadtmauern verschmolz. Angeblich wussten nur die Kapitäne der Flussschiffe, wo genau die Ora die Stadt verließ und an welcher Stelle sie in die Stadt kam, denn das waren die einzigen Lücken in den Mauern, die die Grenze der sterblichen Welt markierten. Es wurde sogar gemunkelt, dass die Kapitäne wussten, wie man Agora verlassen konnte, doch weiter führten diese Geschichten nicht. »Die Stadt verlassen« war in Agora eine andere Art, den Tod zu beschreiben.
Lily wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie vor sich Lord Ruthven in eine Unterhaltung mit drei anderen Gestalten vertieft sah. Er gab ein Zeichen, aber sie war zu weit entfernt, um es genau zu sehen; dann ging er durch eine Tür in ein Gebäude aus uralten Steinen.
Lily trat noch näher heran. In ihrem Kopf drehte sich alles. Was hatte der höchste Richter der Stadt hier mitten im Elendsviertel zu suchen? Wer waren diese Leute?
Und dann sah sie auch wieder die Frau und den Mann. Sie hatten immer noch ihre Kapuzen auf und kamen aus einer anderen Straße auf den kleinen Platz. Lily duckte sich in die Gasse und wich noch ein Stück weiter zurück, als sie sich ihr zuwandten. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie sah zu, wie sie näher kamen, wartete auf den richtigen Augenblick. Sie spannte die Beinmuskeln an, jederzeit bereit, davonzurennen und in den verschlungenen Gassen unterzutauchen.
Sie schauten weg. Lily drehte sich um. Und rannte.
Sie rannte einem Mann in einem nachtblauen Mantel in die Arme.
»Auf der Jagd nach Schuldnern, Miss Lilith?«
Die verdutzte und erschrockene Lily stand vor Sergeant Pauldron, dessen Dreispitz sein Gesicht verschattete, aber selbst im Mondlicht konnte sie erkennen, dass sein Ausdruck nicht freundlich war.
»Es gibt viele Unglückliche im Fische-Bezirk, Sergeant«, antwortete Lily trotz ihres wie wild schlagenden Herzens einigermaßen gefasst. »Manche sind zu schwach, um es allein bis zum Almosenhaus zu schaffen.«
»Das habe ich bemerkt, Miss Lilith. Wir Eintreiber sind nicht blind, auch wenn Sie da anderer Meinung sein mögen.« Er blickte sie mit anklagenden Augen an. »Ich habe sehr wohl die vielen Schuldner gesehen, an denen Sie vorbeigegangen sind. Heute Abend fühlen sie sich wohl nicht ganz so mildtätig?«
»Ich … Ich habe jemand Bestimmten gesucht«, sagte Lily. Selbst sie konnte das Zittern in ihrer Stimme hören.
»Aha. Wen denn?« Der Sergeant klang ganz vernünftig, was ein untrügliches Zeichen für Gefahr war.
»Mich, Sir … Es tut mir leid, dass wir ihnen so viele Unannehmlichkeiten bereitet haben.«
Die Stimme klang ein wenig krächzend, aber fest. Lily und der Sergeant drehten sich gleichzeitig um. Der alte Mann, der Lily gefolgt war, stand nun neben ihnen, und auch die Frau kam heran. Sie streifte die Kapuze ihres Mantels ab, und ein Schopf roter Locken kam zum Vorschein.
»Es ist mir gelungen, ihn zuerst zu finden, Lily. Ich hoffe, es macht dir nichts aus«, sagte Gloria mit einem dünnen, angespannten Lächeln und hob ihre Laterne an ihr Gesicht.
»Aber selbstverständlich nicht, Gloria«, erwiderte Lily geistesgegenwärtig und erleichtert. »Gut, dass du da bist …«
»Pete, Miss«, sagte der Mann.
Im Schein von Glorias Laterne
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