Die Stadt der verkauften Traeume
erkannte Lily ihn. Er war viele Male im Almosenhaus gewesen, auch er ein alter Fischer, dem Geruch des Flusses nach zu urteilen, der an ihm und seiner Kleidung hing. Sie hatten ihm eine Schlafstatt angeboten, aber er war nicht geblieben, höchstwahrscheinlich aus Stolz.
Lily wandte sich wieder an den Sergeanten, der sie noch immer mit wachsamem Auge ansah.
»Also … jetzt müssen wir aber wieder zurück. Am besten, wir machen uns gleich auf den Weg«, sagte Lily schon halb im Gehen. Diese Nacht, das nahm sie sich fest vor, würde sie nie vergessen.
»Das würde ich Ihnen auch raten, Miss Lilith«, erwiderte der Sergeant und machte einen Schritt zurück in die Dunkelheit. »Diese Elendsviertel sind kein sicherer Ort.«
Lily schauderte. »Komm schon, Gloria, wir gehen.«
Unterwegs kam ihr Gloria ungewöhnlich ruhig vor. Ihre spärliche Unterhaltung wurde weder von ihrem üblichen Zappeln noch von plötzlichen Ausrufen begleitet, und selbst Lilys Dank nahm sie in aller Stille an, statt wie gewöhnlich in übertriebene Begeisterung auszubrechen.
»Keine Ursache. Ich bin gerade vom Ball zurückgekommen und habe Peter hierher zurückgehen sehen. Ich dachte, ich versuche noch einmal, ihn dazu zu bewegen, mit uns zu kommen.«
Pete schnaubte, aber es klang eher freundlich. »Wenn sich eine junge Dame für jemanden wie mich die Mühe macht, ist es doch das Mindeste, dass ich sie zum Almosenhaus zurückbringe«, sagte er.
Lily sah ihn verdutzt an. »Ein echter Gentleman, unser Pete.«
Der alte Fischer schnaubte erneut. »Von denen bin ich nie einer gewesen. Aber ich war nicht immer so wie jetzt. Hab ganz schön was durchgemacht.«
Lily nickte nachdenklich. Auch sie würden noch einiges durchmachen müssen. Sie kannte diesen Heimweg nur zu gut. Sie kannte den Anblick der Leute, die sich noch immer an ihren letzten Kleidungsstücken und ihrer Würde festhielten und die in einer langen Schlange vor ihrer kleinen Tür standen. Sie kannte die fröhliche Stimme von Benedikta, die sie zu Hause begrüßte. Selbst dieses Lächeln, das nie versiegte, kam ihr in letzter Zeit viel schmaler vor. Natürlich war sie eine gute Freundin, aber manchmal fragte sich Lily, wie tief diese gute Laune, die sie an andere weiterzugeben versuchte, bei Benedikta wirklich ging. Lily wusste, dass es den Schuldnern half, und sie versuchte, es ihr gleichzutun. Andererseits wusste sie, auch ohne in den Spiegel zu sehen, dass ihre Augen ihre Gedanken nicht verhehlen konnten.
»Lily …« Gloria senkte die Stimme, als sie die verwinkelten Straßen des Schütze-Bezirks betraten. »Wäre es möglich, dass du nichts von meinem kleinen Ausflug heute Abend erzählst? Laud mag es nämlich nicht, wenn ich in die Elendsviertel gehe.«
Lily nickte. Gloria entspannte sich sichtlich und wechselte einen Blick mit Pete. Innerlich seufzte Lily. Glaubte Gloria wirklich, dass sie nicht wusste, warum sie dorthin ging? Man musste kein Genie sein, um zu bemerken, dass sie Miss Devine nicht mehr aufsuchte. Vielleicht hatte sie eine preiswertere Quelle aufgetan.
»Ich sage ihm nichts«, erklärt Lily und nahm Gloria am Arm. »Das solltest du selbst tun. Sie machen sich nämlich Sorgen um dich – beide.«
Gloria lächelte wehmütig. »Wofür sind Familien sonst da?« Sie überlegte. »Wir machen uns die ganze Zeit Sorgen. Seit wir unsere Eltern verloren haben, hat es, glaube ich, keinen einzigen Tag gegeben, an dem ich mir nicht Sorgen um Laud und Benedikta gemacht hätte. Ich bin ihnen nie die Mutter gewesen, die ich hätte sein sollen.«
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinanderher. Dann versuchte Lily, ihre Gedanken in Worte zu fassen: »Ich glaube nicht, dass sie eine Mutter brauchen. Jetzt nicht mehr. Was sie möchten, ist ihre Schwester. Ihre richtige Schwester, die ohne die Gefühle anderer Leute in sich.«
Gloria nickte bedächtig. »Es ist schwer, Lily. Bevor ich ins Almosenhaus kam, fühlte ich …« Gloria schien ihr etwas sagen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. »Ich erzähle es dir bald einmal. Du warst so wichtig für uns, aber Laud und Ben sollten die Ersten sein, die es erfahren.« Sie lächelte. Ein leises Lächeln, ganz anders als das zerfahrene Grinsen, das sie sonst oft aufsetzte. »Ich bin noch nicht so weit, aber … du wirst bald einen echten Wandel erleben. Das verspreche ich.«
Lily blickte in Glorias ungetrübte Augen und glaubte ihr.
Sie würden bald da sein. In der Ferne konnte Lily ein bestimmtes Licht erkennen.
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