Die Stadt der verkauften Traeume
gesamte Familie dahingesiecht ist.« Er verschränkte die Arme. »Wenn du willst, dass ich etwas zurückgebe, wenn du glaubst, dass ich ihnen etwas ›schulde‹, gut. Dann werde ich eben einer eurer Förderer. Aber nach allem, was mein Vater mir angetan hat, nach allem, was der Graf versucht hat, mir anzutun, habe ich da nicht auch etwas Gutes im Leben verdient?«
»Das nennst du gut?«, fragte Lily leise und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Mark, deine Geschäfte … Sie sind auf dem Leid anderer Leute aufgebaut. Ich verstehe ja … Ich glaube nicht, dass du gewusst hast, was da geschieht. Aber du kannst nicht so weitermachen. Du kannst andere Menschen nicht behandeln, als wären sie bedeutungslos.«
Mark schaute sie mit kalten Augen an. »Du hast mir gesagt, ich soll überleben. Weißt du nicht mehr? Du hast gesagt, dass wir überleben müssen. Ich habe dir geglaubt.« Er ging auf sie zu. »Deshalb bin ich hier, ergreife jede Gelegenheit, die sich mir bietet, trage blöde Kleidung, tue so, als ob ich das seit Jahren statt erst seit einigen Monaten täte. Vielleicht sieht das für dich nach einem erstklassigen Leben aus, aber es ist immer noch ein Kampf ums Überleben. Nur habe ich jetzt mehr zu verlieren als früher.« Mark presste die Lippen aufeinander und wandte sich von ihr ab. »Ich war ganz unten, Lily.« Seine Stimme wurde leiser, schmerzerfüllter. »Ich will nie wieder wertlos sein. Deshalb kämpfe ich weiter.«
Lily starrte ihn sprachlos an. Sie konnte nicht fassen, dass er sich so sehr belügen konnte. Sie wollte ihn an seinem albernen goldenen Mantel packen und hinter sich her ins Almosenhaus zerren, ihn dazu zwingen, sich die Menschen dort anzusehen, auf denen er auf seinem Weg nach oben herumgetrampelt war. Aber sie hielt den Mund, weil sie wusste, dass er ihr nicht zuhören würde. Er hatte sich seit Monaten in einer Welt der Mode und des Reichtums bewegt, in der Welt, die ihr noch vor wenigen Stunden so leichtlebig erschienen war … Das war alles, was sie kannten. Sie waren nicht mehr dazu in der Lage, den Wert von Dingen zu begreifen, mit denen man nicht handeln konnte.
Lily verspürte das dringende Bedürfnis, sich von diesem Ort zu entfernen. Sie spürte den missbilligenden Blick der Statuen um sie herum. Selbst die Luft schien schwer, aufgebläht vom Wohlgeruch des Reichtums. Sie gehörte nicht hierher, wo ihr niemand zuhörte, ganz egal, wie laut sie rief. Sie bückte sich und hob ihre Maske auf. Dann drehte sie sich zu Mark um.
»Das Problem mit dem Kämpfen, Mark, ist, dass es nie aufhört.« Sie sah ihn unverwandt an und versuchte, ihm ihre Worte ins Gehirn einzubrennen, das von Glanz und Träumen völlig vernebelt war. »Am Ende gerät jeder in einen Kampf, den er nur verlieren kann. Und was kommt danach?«
Sie wandte sich ab. Sie wollte seine Erwiderung nicht mehr hören, wollte nicht hören, wie er die Ansichten derer wiederholte, die nichts sehen konnten. Sie wollte ihn nicht einmal mehr ansehen.
Lily nahm die Verwunderung der anderen Gäste kaum wahr, als sie sich auf ihrem Weg aus den Gärten zwischen ihnen hindurchdrängte. Innerlich schalt sie sich dafür, dass sie Mark nicht dazu gezwungen hatte, sich anzusehen, wie unrecht er hatte. Aber die vergangenen Monate hatten sie sehr müde gemacht. Sie hatte alles versucht, genau wie die anderen auch, doch jetzt war bereits Sommer, Theo suchte immer noch nach seinem Großvater, und Benedikta arbeitete immer noch unermüdlich, um die Schuldner von dem mageren Essen zu ernähren, das sie sich gerade so leisten konnten. Nichts änderte sich.
Um genau zu sein, stimmte das nicht, dachte Lily verbittert, während sie sich gegen ein verfallendes Haus lehnte. Das Almosenhaus wurde ärmer. Ihre wenigen Förderer konnten es nicht länger unterhalten. Sie hatte sogar ihre Suche nach Spuren ihrer Vergangenheit, nach einem Hinweis auf ihre Eltern als vergeblich aufgeben müssen. Es brach ihr fast das Herz, aber das Almosenhaus nahm sie jeden einzelnen Augenblick des Tages in Anspruch. Lily ließ den Kopf hängen und versuchte, das Schuldgefühl, das sich in ihr ausbreitete, einfach zu ignorieren. So viel zu ihrem Entschluss, keine Predigten zu halten. Wie gewöhnlich hatte sie damit alles nur noch schlimmer gemacht.
Die Straßen im Löwe-Bezirk waren merkwürdig still. Der Ball, stellte sie fest, ging allmählich zu Ende, und die herausgeputzten Gäste tauchten in die warme Nacht ein. Lily wünschte sich, ja, sie betete sogar zu dem
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