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Die Stadt der Verlorenen

Die Stadt der Verlorenen

Titel: Die Stadt der Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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schlagartig, warum.
Der gesamte Berg war geborsten. Ein gut mannsbreiter,
gezackter Riss hatte die Felswand vom Boden bis zur Grenze des
Sichtbaren hinauf gespalten. Hier und da lief Wasser aus diesem
Riss und noch immer regneten Steine vom Himmel, wenn auch
weit entfernt, sodass sie im Moment nicht in Gefahr waren. Aber
er konnte gut verstehen, dass keine lebende Seele in der Nähe
war. Jedermann, der gesehen hatte, wie dieser ganze gewaltige
Berg auseinander barst, musste in heller Panik geflohen sein.
Als Mike sich jedoch weiter umsah, fragte er sich erschrocken,
wohin eigentlich.
Die Katastrophe hatte sich nicht nur auf den Berg beschränkt.
Sie waren so weit von der Stadt entfernt, wie es hier unten
überhaupt möglich war, sodass er sie nur als
verschwommenen Schatten erkennen konnte. Trotzdem waren
die Schäden, die die Stadt davongetragen hatte, deutlich zu
erkennen. Einige der
schlanken Türme waren verschwunden
und über der gesamten Stadt schien eine Art feiner Dunst zu
schweben, der aus der Nähe betrachtet wahrscheinlich aus nichts
anderem als dem Rauch der zusammengestürzten Gebäude
bestand.
»Großer Gott!«, murmelte Mike.
»Ich weiß zwar nicht, was dieses Wort bedeutet«, sagte Sarn
neben ihm, »aber ich glaube, ich ahne es. Es ist furchtbar.«
Mike sah instinktiv nach oben. Die Kuppel war diesmal an vier
Stellen geborsten. Große, dunstige Fahnen aus Meerwasser
wehten herein und lösten sich auf, bevor sie den Boden
berührten. Er sah auch, dass sich die Risse bereits wieder zu
schließen begannen – aber wie oft noch? Diese Kuppel mochte
ein Wunderwerk atlantischer Technik sein, aber letzten Endes
war auch ihrer Belastbarkeit Grenzen gesetzt.
»Es wird schlimmer«, murmelte er. »Was, wenn ihr nicht mehr
so viel Zeit habt, wie du bisher geglaubt hast?«
»Dann soll es wohl so sein«, sagte Sarn leise. Er gab
sich
einen sichtbaren Ruck und fuhr in verändertem Ton fort:
»Aber keine Angst. Du und deine Freunde, ihr werdet nicht
mehr hier sein, wenn es so weit ist. Wenn wir sofort
losmarschieren, können wir Lemura noch vor der nächsten
Schlafenszeit erreichen. Der Moment ist günstig. In der Stadt
herrscht mit Sicherheit Chaos. Niemand wird nach uns suchen.«
Mike war verwirrt. Wie konnte Sarn in einem Moment wie
diesem daran denken?
»Du musst das nicht tun«, sagte er. »Singh und ich
können
die anderen auch allein in die Stadt bringen. Singh weiß, wo die
NAUTILUS liegt.«
»Ihr kämt nie an den Wachen vorbei«, widersprach Sarn.
»Und wenn es dich beruhigt
– die meisten von uns haben
Freunde und Verwandte in der Stadt. Wir haben also ohnehin
denselben Weg.«
Sie rasteten eine halbe Stunde, um wieder zu Kräften
zu
kommen und die Verwundeten so weit zu versorgen, dass sie aus
eigener Kraft weitergehen konnten, dann brachen sie auf. Die
Erde bebte in dieser Zeit ununterbrochen, aber die Risse in
Lemuras künstlichem Himmel schlossen sich auch wieder.
Mike versuchte ein paar Mal mit Ben, Chris und Juan ins
Gespräch zu kommen, gab aber schließlich auf. Auch Astaroth
zeigte sich ungewohnt schweigsam und verschwand
schließlich
ganz; vermutlich, um sich irgendwo im Wald einen
Leckerbissen zu erjagen.
Sie marschierten zwei, drei Stunden, ehe sie eine weitere Rast
einlegen mussten, und als sie eine gewisse Höhe erreicht hatten
und die unterste Ebene Lemuras zur Gänze überblicken
konnten, erwartete Mike der nächste Schock: Unter ihnen war
eine Anzahl neuer Seen entstanden. Die Korallengruben, in
denen er selbst so lange gearbeitet hatte, hatten sich mit
eingedrungenem Meerwasser gefüllt. Was Sarn offensichtlich
immer noch nicht wahrhaben wollte, war nun nicht mehr zu
leugnen: Lemura starb. Und nicht langsam, in Jahrhunderten,
wie sie noch am Morgen geglaubt hatten, sondern ungleich
schneller. Vielleicht blieben der Stadt auf dem Meeresgrund nur
noch wenige Tage.
Lemura kam allmählich in Sicht, und je mehr sie sich der Stadt
näherten, desto deutlicher wurden die Spuren der Zerstörung,
die das Beben angerichtet hatte. Die meisten Häuser und
Gehöfte, an denen sie vorüberkamen, waren beschädigt oder
vollkommen zerstört und sie sahen viele Verletzte. Allen
Menschen, denen sie begegneten, stand die Angst in die Gesichter
geschrieben.
Wie Sarn gesagt hatte, erreichten sie die Stadt kurz
vor
Anbruch der Schlafenszeit, die in Lemura die Stelle der Nacht
einnahm. Und er hatte auch in einem zweiten Punkt Recht:
Lemuras Tore standen weit offen und waren unbewacht

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