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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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denke, ich werde später auf ihm reiten. Im Moment bin ich zu müde.«
    »Morgen früh wird es dir besser gehen.«
    Toby zog sich die Maske wieder vors Gesicht. »Könnte ich mal sehen, wie das Glücksland funktioniert?«
    Während Dr. Krakower den Kopfteil der Bettauflage steiler stellte, damit Tobys Oberkörper höher kam und er eine ungehinderte Sicht auf den Miniatur-Vergnügungspark hatte, drehte Sebastian die Schalter und Knöpfe am Bedienungspaneel. Das Spielzeug wurde auf einen Schlag zum Leben erweckt, die ganze wirbelnde, sich drehende, ewig optimistische Welt.
    »Schneller!« murmelte Toby, während das Karussell, das Riesenrad und die Achterbahn ihre unsichtbaren Passagiere in schwindelerregendem Tempo herumsausen ließ. »Laß es schneller laufen!«
    »Hier, mach du es.« Sebastian reichte meinem Sohn das Bedienungspaneel.
    »Schneller…« Toby erhöhte die Stromstärke. »Schneller, schneller…« Ich hörte die Spur eines unbewußten vorpubertären Sadismus in seiner Stimme. »Hereinspaziert, meine Damen und Herrn«, sagte er. »Machen Sie eine Fahrt mit dem Karussell, machen Sie eine Fahrt auf unserer riesigen Achterbahn.« In seiner Phantasie, das wußte ich, kotzten die Passagiere des Riesenrades sich jetzt die Seele aus dem Leib; die Achterbahn schleuderte ihre Kundschaft ins All; die Karussellpferde hatten ihre Reiter abgeworfen und trampelten auf ihnen herum. »Hereinspaziert!«
    In diesem Moment bemerkte ich ein seltsames Phänomen beim Nikolaus und seinen Helfern. Ihre Augen waren feucht. Sie vergossen Tränen. Ja, Tränen – Kindertränen.
    »Was ist los mit ihnen allen?« fragte ich Martina.
    »Was meinst du?«
    »Ihre Augen.«
    »Hereinspaziert«, sagte Toby.
    Martina sah mich an, wie sie vielleicht einen außergewöhnlich stumpfsinnigen und unintelligenten Hund angesehen haben könnte. »Sie weinen.«
    »So etwas habe ich noch nie gesehen.« Ich drückte auf meine ausgetrockneten Tränensäcke. »Jedenfalls nicht bei Erwachsenen.«
    »Machen Sie einen Fallschirmabsprung!« sagte Toby.
    »In Satirev«, erklärte Martina »weinen die Erwachsenen andauernd.«
    Tatsächlich. Ich ließ den Blick über die versammelten Erwachsenen schweifen, betrachtete ihre tränenden Augen, ihr wehmütiges Lächeln, ihre theatralisch traurigen Mienen. Ich betrachtete sie – und durchschaute sie. Ja, keine Frage, sie erfreuten sich an diesem grotesken Rührstück. Sie genossen jede Minute davon.
    Toby hatte aufgehört zu sagen: »Hereinspaziert.« Er sagte gar nichts mehr. Das einzige Geräusch, das von ihm kam, war ein gedämpftes, schwaches Stöhnen, wie wenn der Wind leise über den Jordan pfiff.
    Ein Wirbel von heftigen, zupackenden Bewegungen: Dr. Krakower senkte Tobys Bettauflage in horizontale Stellung ab, drehte den Inhalator auf, öffnete den Zufuhrhahn für das Meperidin. Anthony Raines nahm die knöcherne Hand meines Sohnes in seine und drückte sie beruhigend.
    »Werde ich euch alle wiedersehen?« fragte Toby, während die Medizin sein Gehirn durchtränkte. »Werdet ihr zum nächsten Weihnachtsfest auch wieder kommen?«
    »Natürlich.«
    »Versprochen?«
    »Wir sind wieder da, Toby, darauf kannst du dich verlassen.«
    »Ich glaube, es wird kein nächstes Weihnachtsfest geben«, sagte mein Sohn.
    »Das darfst du nicht glauben«, sagte Anthony.
    Ich wandte mich ab und starrte den Baumschmuck an. Ein Schneemann aus Styropor hielt ein Plakat hoch mit der Aufschrift GUTE GENESUNG, TOBY. Ein Keramikengel schwenkte eine Fahne mit der Beteuerung WIR SIND BEI DIR, JUNGE. Auf einen Plastikeiszapfen war ein Schild aufgespießt, auf dem stand MIT DEM SCHMERZ KOMMT DIE WEISHEIT.
    Als ich mich wieder umdrehte, gewahrte ich eine große silberne Träne, die über die Wange des Weihnachtsmannes kullerte. »Natürlich wird es ein nächstes Weihnachtsfest geben«, sagte ich mechanisch.
    Tobys blaue Haut, die sich straff über die Wangen- und Kieferknochen spannte, runzelte sich, als er gähnte. »Mir gefällt Weihnachten«, sagte er. »Es gefällt mir sehr gut. Werde ich heute sterben, Nikolaus? Mir ist so kalt.«
    Sebastian sagte: »So darfst du nicht reden, Toby.«
    »Du weinst ja, Nikolaus. Du…«
    »Ich weine nicht«, sagte Sebastian und rieb sich mit den Fäustlingen die Tränen aus dem Gesicht.
    »Vielen, vielen Dank, Nikolaus«, murmelte Toby, in Meperidin schwebend. »Das war der großartigste Tag meines ganzen Lebens. Ich mag dich, Nikolaus. Ich wünschte, mein Automatikpony wäre schwarz…«
    Mein Sohn

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