Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
ihn ansehen zu können, doch ich spüre seinen Blick auf mir. Tränen steigen mir in die Augen.
»Ich sollte dich zu deinem Freund zurückbringen«, sagt er. Auch seine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.
Während wir zurückgehen, denke ich daran, wie sich unsere Arme wie zufällig berührt haben, als er mich nach Hause begleitet hat. Wie ich mich nach dieser stillen, entspannten Kameradschaftlichkeit sehne.
Auf dem Weg vom Innenhof zurück in den Club bietet sich ein nahezu direkter Blick auf die Bar. An der Stelle, wo Will mich vorhin angesprochen hat, steht eine vertraute Gestalt, bei deren Anblick mich ein eisiger Schauder überläuft. Der alte Mann hat ein Glas in der Hand, das genauso aussieht wie das, aus dem ich vorhin getrunken habe. Will stößt ein abfälliges Schnauben aus und zieht mich ein Stück die Treppe hinauf außer Sichtweite.
»Sie kommen sonst nie nach unten«, sagt er. »Solltest du jemals einem dieser Männer begegnen, sieh zu, dass du wegkommst. Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ist … ungesund.«
Stimmengewirr und Gelächter wehen von der Bar herüber. Ich werde ihm nicht auf die Nase binden, dass ich ihre Aufmerksamkeit längst auf mich gezogen habe. Dass ich bis über beide Ohren drinstecke.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagt Will. Wieder nicke ich, stumm vor Kummer. Er tritt zwei Schritte beiseite und wartet, als wolle er sehen, wie ich darauf reagiere. Ich lächle schief, drehe mich um und kehre in Elliotts Privaträume im dritten Stock zurück.
»Da bist du ja.« Elliott hat seine silberne Spritze mitten auf den Tisch gelegt – gewissermaßen als Anreiz für mich zu tun, was er sagt. Und mir vor Augen zu führen, wie wenig er von mir hält.
»Sieh dir das hier an, während ich Licht mache.« Er schiebt mir einen Stapel Papiere zu: Handzettel, wie man sie überall an Gebäudewänden anbringt, und zusammengefaltete Flugblätter. Doch selbst in hellerem Licht kann ich sie kaum entziffern. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen, und ich erkenne nur Symbole. Rote Sensen, schwarze Sensen.
Ich streiche mit dem Finger über eine schwarze Sense. »Die sind mir in der Unterstadt aufgefallen.«
Seine Braue schießt hoch, als wundere er sich, was ich dort zu suchen hatte. Aber er verkneift sich die Frage, und ich mache keine Anstalten, es ihm auf die Nase zu binden.
»Unser reizender Reverend benutzt dieses Symbol für seine Rebellion. Hast du auch diese Flugblätter dort gesehen?«
»Nein.« Ich blättere die Unterlagen durch, lese die Überschriften. DER PRINZ IST EIN SCHURKE. DIE WISSENSCHAFT IST UNSERE RETTUNG. DIE KRANKHEIT KOMMT AUS DEM WASSER, NICHT AUS DER LUFT – Lügen und Halbwahrheiten, allesamt darauf ausgelegt, den Leuten Angst zu machen. Ich zerknülle ein Flugblatt, auf dem steht, die Krankheit sei ein Fluch, als mir bewusst wird, was ich da tue. Ich versuche, das Flugblatt wieder glattzustreichen.
»Drückt das, was auf diesen Blättern steht, die allgemeine Stimmung des Volks aus, oder schüren diese Parolen nur vereinzelte Meinungen aus der Masse?«, frage ich Elliott.
»Das ist eine gute Frage, allerdings kann ich sie nicht beantworten. Dank deines Vaters standen die Anti-Wissenschaftstendenzen im Volk einige Jahre lang nicht allzu hoch im Kurs. Seine Erfindung hat den Leuten neue Hoffnung geschenkt, aber hiermit wird diese Hoffnung zerstört. Meinem Onkel ist nicht klar, wie trostlos … Eigentlich hätte die Erfindung der Masken eine Art Renaissance einläuten müssen. Und nicht diesen verzweifelten Kampf, bei dem wir kaum etwas zu verlieren haben.«
Vor mir liegt ein Flugblatt mit einer Karikatur des Prinzen, bei dessen Anblick mir bewusst wird, wie sehr ich ihn verabscheue. Mein Vater wollte Leben retten, aber der Prinz hat aus dem Tod und der Seuche eine Industrie gemacht.
»Die Gewalt wird bald eskalieren, Araby«, sagt Elliott.
Mein Magen verkrampft sich. Gewalt ist etwas Sinnloses, taub für jede Vernunft. Allem Anschein nach hat Elliott Männer hinter sich, die für den Kampf ausgebildet sind, aber wie viele? Mehr als der Prinz?
»Aber vielleicht können wir diesen Aufruhr auch zum Wohle der Stadt nutzen.« Sein Blick begegnet meinem.
Im Schlafzimmer hinter uns schlägt eine Uhr. Es ist mitten in der Nacht, und ich sitze hier, in Elliotts privaten Räumen.
Er steht auf, streckt sich und tritt zum Sideboard. Er gießt etwas in zwei schwere Kristallgläser und reicht mir eines davon.
»Auf das Wohl der Stadt.«
Jemand klopft leise
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