Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
mir her zu einem Weidenkorb, der groß genug ist, um uns beiden Platz zu bieten. Es ist der berühmte Ballon des Debauchery District.
»Mein Bruder wollte immer eine Ballonfahrt machen.«
»Tja, dann solltest du es jetzt für ihn tun«, sagt Will zärtlich. Seine Art, mit Finns Tod umzugehen, ist das krasse Gegenteil davon, wie ich es bisher getan habe. Die Vorstellung, für Finn zu leben, ist absurd und faszinierend zugleich.
Kent tritt um den Ballon herum und bleibt stehen, um etwas zu überprüfen. »Das Seil ist mit einer Winde verbunden. Wenn ihr runterkommen wollt, müsst ihr Luft ablassen. Wenn nicht, ziehe ich euch selbst herunter. Ihr habt eine Viertelstunde.«
Da ist noch etwas anderes auf dem Dach. Etwas Gewaltiges unter einer riesigen Plane, die wie ein Zelt aussieht.
Kent, der meinem Blick gefolgt ist, wird rot.
»Was ist das?«, frage ich ihn.
»Nur ein Experiment«, antwortet er. Ich kenne diesen Tonfall. Genauso klingt Vater auch immer, wenn er mitten in einem Experiment steckt. Wenn er nicht sicher ist, ob es tatsächlich funktionieren wird, und noch nicht darüber reden will.
Ich stehe unverschämt dicht neben Will. Mir ist klar, dass ich eigentlich einen Schritt zurücktreten sollte, aber ich bringe es nicht über mich. Nicht einmal zum Schein.
»Das ist übrigens Kent«, stellt Will ihn vor. »Er ist der Ballonexperte hier.«
»Freut mich.« Es besteht kein Grund, Will wissen zu lassen, dass wir uns bereits kennen.
Ich mache keine Anstalten, ihm die Hand zu geben. Damit haben wir schon vor Jahren aufgehört. Wegen der Ansteckungsgefahr. Stattdessen klammere ich mich mit beiden Händen an Wills Hemdbrust fest, als hätte ich Angst, dass er sich in Luft auflöst, sobald ich von ihm ablasse.
Kent macht eine angedeutete Verbeugung. »Freut mich auch, dich endlich kennenzulernen.« Er spielt mein Spielchen mit. »Will hat viel von dir erzählt.«
»Bist du bereit?«, fragt Will.
Er wartet, bis ich bejahe, dann hebt er mich in den Korb und klettert ebenfalls hinein. Der Ballon steigt so schnell empor, dass ich einen Moment lang Angst bekomme. Will räuspert sich und sagt: »Ich musste den ganzen Tag an dein Gesicht denken, als du weggegangen bist. Henrys Maske funktioniert noch. Aber du hast so verloren ausgesehen. Als hättest du keinerlei Hoffnung mehr.«
Ich will nicht über Verlorenheit oder den Verlust der Hoffnung sprechen.
Das Dach des Clubs befindet sich weit unter uns. Ich kann das Dampfschiff im hell erleuchteten Hafen erkennen und die Massen, die darauf zustreben.
Ich habe ein flaues Gefühl im Magen wie damals, als ich mit Finn im Park auf der Wippe gesessen habe. Kurze Hoffnungsschimmer machen ein Leben mit der Verzweiflung noch viel schwerer.
»Irgendwann einmal dachte ich, dass ich noch nie jemandem begegnet bin, der dem Selbstmord so nahe ist wie du, aber in dir schlummert noch etwas anderes. Deshalb habe ich dich zu mir nach Hause mitgenommen.«
»Statt mich einfach sterben zu lassen?«
»Statt dich vor den Krankenhauseingang zu legen. Ich habe gesehen, wie du dich verändert hast. Und heute Morgen war es, als erlösche ein Licht.«
Ich weine. Ich verdiene es nicht, glücklich zu sein. Und sollte ich wider Erwarten das Glück doch noch finden, darf ich es nicht behalten. Ich sehe die Lichter der Stadt zwischen meinen Tränen hindurchschimmern. Ich wische sie mit dem Handrücken ab.
»Hier oben ist es so friedlich«, flüstere ich.
»Ja.« Er streicht sich das dunkle Haar aus dem Gesicht. »Wir können unsere Masken abnehmen. Hier ist die Luft sauber.«
Ich wage nicht, ihn zu fragen, ob es auch wirklich sicher ist, denn wenn er zögert, werde ich das Risiko ganz bestimmt nicht eingehen.
Ich nehme meine Maske ab – es gibt mir das Gefühl, mich mehr zu entblößen, als wenn ich mein Kleid ausziehen würde. Vielleicht liegt es an meinen Tränen. Er nimmt mir die Maske aus der Hand und legt sie behutsam neben seine eigene auf den Korbboden.
Hier oben kann man den Gestank nach Verfall nicht riechen und nicht sehen, dass die Stadt immer mehr verfällt.
»Ich wollte, dass du das hier siehst«, sagt er. »Von hier oben hat man einen einzigartigen Ausblick auf die ganze Stadt. Sieh dir nur die Straßen an, den Kanal. Und die Kirchtürme.«
»Es ist wunderschön«, sage ich, auch wenn es nicht die Wahrheit ist. Die Stadt ist nur schön, wenn man möglichst weit weg von ihr ist. Ich will nicht zurück.
Das nagelneue Schiff schimmert verführerisch im Hafen. Wir werden
Weitere Kostenlose Bücher