Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
taumelnd direkt an der Kante des Piers. Ich erhasche einen Blick auf einen blonden Schopf an Deck des Schiffs.
Elliott. Er lässt den Blick über die Menge schweifen. Obwohl er seine Maske trägt, sehe ich, dass er die Stirn runzelt. Ich hebe die Hand, aber nur ein kleines Stück. Ich will, dass er mich sieht, möchte aber keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Seeleute und Wachen haben sich links und rechts von ihm postiert. Ich halte nach April Ausschau, kann sie jedoch nirgendwo entdecken.
Ein Mann mit einem Zylinder, der auch schon bessere Zeiten gesehen hat, reicht Elliott eine Flasche Champagner.
Obwohl ich nicht allzu weit von ihm entfernt bin, kann ich den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht länger lesen. Er hebt die Hand und berührt seine Maske. In diesem Augenblick höre ich Schreie hinter mir.
Leute fallen ins Wasser, strampeln und schreien. Ich werde zurückgedrängt und versuche mich irgendwo festzuhalten, völlig egal, wo. Ich bekomme den Arm eines Mannes zu fassen, der mich von sich stößt, aber wenigstens habe ich mein Gleichgewicht wiedergefunden und bin in Sicherheit.
Und dann sehe ich sie plötzlich. Ein Mädchen steht in der Menge und wird von heftigen Krämpfen geschüttelt. Rote Tränen strömen ihr übers Gesicht, und der Schweiß hat ihr blondes Haar rosa verfärbt. Hilfesuchend streckt sie die Hände aus, doch die Leute weichen immer weiter vor ihr zurück.
»Der Rote Tod«, höre ich jemanden sagen.
Das Mädchen fällt zu Boden.
Es wundert mich nicht, dass keiner Anstalten macht vorzutreten. Doch ich bin erstaunt, wie klar und deutlich das Geräusch von den verrotteten Pierplanken widerhallt, als ihr Kopf mit voller Wucht aufschlägt.
In diesem Augenblick höre ich Elliotts Stimme und drehe mich um. Er beugt sich über die Reling und ruft mir etwas zu, doch ich kann ihn nicht verstehen. Wieder stößt mich jemand von hinten, und ich falle auf Hände und Knie.
Plötzlich bin ich nicht mehr sicher, ob er derjenige war, der mich gerufen hat, oder jemand anderes. Die Haut an meinen Handflächen ist aufgerissen und blutet, und als ich mich aufrapple, sehe ich, wie jemand dem sterbenden Mädchen einen Tritt verpasst. Es ist kein bösartiger Tritt, sondern lediglich eine Art Anstupsen, doch kaum hat einer damit angefangen, tun andere es ihm nach. Meter um Meter rollt das Mädchen in Richtung Hafenbecken. Ihre langen bleichen Finger tasten suchend nach irgendetwas, woran sie sich festhalten kann. Eine Frau schreit auf, als sie sich um ihren Knöchel legen.
Das Mädchen lebt noch, als die Meute sie über die Pierkante ins Wasser stößt.
Jemand berührt mich an der Schulter. Ich wirble herum und schlage die Hand fort.
»Araby?«, sagt Will sanft, die Hand noch immer nach mir ausgestreckt. In meiner Erleichterung, dass er mich endlich gefunden hat, werfe ich die Arme um seinen Hals. In diesem Moment sehe ich April auf der anderen Seite des Piers stehen. Sie trägt ein Kleid mit roten Pailletten und Streifen aus weißer Seide, das aus dem Meer aus tristem Graubraun unübersehbar hervorsticht.
Ich habe keine Ahnung, wieso sie mitten im Getümmel steht und nicht an Bord ist, aber Will kann uns helfen und dafür sorgen, dass wir auf das Schiff gelangen. Er kann uns beide retten, und wenn wir zurückkommen, werden wir ihn retten.
Ich sehe, wie mehrere gut gekleidete Männer sich Elliott nähern, um ihm die Hand zu schütteln. Er redet mit ihnen, während er mit Blicken immer noch die Menge absucht. Er sucht nach mir.
»Komm mit.«
Wills Stimme ist unglaublich sanft. Ein Mann steht neben ihm. Er ist etwas älter, mittelgroß und hat sich einen Seidenschal eng um den Hals geschlungen.
»Macht Platz für die Tochter des Wissenschaftlers«, ruft er mit lauter Stimme.
Ein Raunen geht durch die Menge. Eine Frau streckt die Hand nach mir aus und berührt mich fast. »Gott segne dich, mein Kind«, sagt sie leise.
»Schaffen wir sie in den Untergrund«, sagt der Mann. Mir fällt auf, dass er stark hinkt. Doch seine routinierten Bewegungen verraten mir, dass er schon lange mit dieser Behinderung lebt. Sehr lange.
Alle starren mich an. Einige Leute ohne Masken lächeln, doch in ihrem Lächeln liegt keine Zuversicht. Und Will wendet den Blick ab. Schlagartig wird mir bewusst, dass er nicht mir hilft, sondern diesem Mann. Ich bleibe stehen, doch Will hält meine Hand fest.
»Araby!«, höre ich Elliott rufen und drehe mich um.
In diesem Moment ertönt ein Knacken, gefolgt von einem lauten Knall.
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