Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske: Roman (German Edition)
»Und jetzt mach dich schön.« Er bleibt im Türrahmen stehen. »Noch schöner als sonst«, fügt er hinzu. Und dann ist er verschwunden.
Ich höre einen Schlüssel, der sich im Schloss dreht. So viel zum Thema Vertrauen. Er hat mich in diesem Zimmer eingeschlossen.
E INUNDZWANZIG
A pril bedeutet mir, ihr in einen Ankleideraum zu folgen. Sie ist kurz nach Elliotts Verschwinden eingetroffen. Ich habe keine Ahnung, wie sie hereingekommen ist.
Sie trägt ein Kleid mit langen Ärmeln. Ich habe April noch nie in einem Kleid gesehen, das ihre Arme bedeckt, schon gar nicht in einem geschlossenen Raum.
»Ist dieses Ankleidezimmer nicht der absolute Hammer? Wären wir die letzten Menschen in der Stadt, könnten wir uns problemlos mit unseren Kleidern hier einquartieren und eins nach dem anderen anprobieren.«
»Das klingt … sehr unterhaltsam«, sage ich.
»Elliott hat jede Menge Bücher. Wären wir die letzten Menschen auf der Welt, könntet ihr euch gegenseitig Gedichte vorlesen.«
»Während du all deine Kleider anprobierst?«
Sie sieht mich im Spiegel an und runzelt die Stirn. Natürlich merkt sie, dass ich sie verspotte. Schlagartig ist ihre Flapsigkeit verflogen.
»Vermutlich werde ich dann sowieso tot sein«, sagt sie und inspiziert ihre rot lackierten Nägel. »Versprich mir, dass wir die nächsten Wochen überleben werden, Araby. Bitte!«
Mit einem Mal ist die Stimmung ernst geworden. Sie ist kreidebleich, und ihre Augen sind riesig. Sie hat unübersehbar Angst.
»Ein Mann ist direkt vor meinen Augen gestorben. Er ist die Straße entlanggegangen und plötzlich zusammengebrochen. Er hat am ganzen Leib gezittert und ganz fürchterlich ausgesehen. Als wäre er nicht mehr bei Sinnen. Blut ist ihm aus den Augen geflossen. Und dann war er auf einmal tot. Dabei sah er kurz zuvor noch völlig normal aus, Araby.«
Ein leiser Schluchzer entfährt ihr, obwohl der Mann ein Wildfremder war.
»Aber bevor er starb, ist ein Tropfen von seinem Speichel auf meinen Schuh getropft. Ich musste eine der Wachen losschicken, damit er mir ein frisches Paar holt. Und jetzt sterben auch unsere Dienstboten zu Hause und hier im Club.«
Sie schiebt mich vor den Spiegel. Ich betrachte mein Gesicht. Die violetten Strähnen haben sich fast vollständig herausgewaschen, ansonsten sehe ich merkwürdigerweise genauso aus wie sonst.
»Am Ende spielt es sowieso keine Rolle, oder? Niemanden kümmert es, wie wir aussehen oder was wir anhaben.« April wendet sich ab. In all den Jahren unserer Freundschaft habe ich nie erlebt, dass sie einem Spiegel den Rücken kehrt.
Wäre die Seuche nicht ausgebrochen, würde es sehr wohl eine Rolle spielen. Die Menschen würden sich das Maul darüber zerreißen, welches Kleid April heute trägt und mit wem sie tanzt.
»Nicht einmal mir ist es noch wichtig«, fährt sie fort. »Ich habe nur einen Wunsch: Dass ich am Leben bleibe. Und Elliott und du auch.«
»Aber du hast doch auch schon früher Leute sterben sehen.«
»Aber nicht so.« Sie streicht mir das Haar aus dem Gesicht und schraubt ein Döschen Glitzerlidschatten auf. Ich muss an den Abend denken, als Will gesagt hat, ich sollte eher den Glitzerlidschatten tragen, weil er mir viel besser stehe.
Sie umrahmt meine Augen mit einem dunklen Kajal. Ihre Hand ist ganz ruhig. Ich weiche zurück, um ihr ins Gesicht zu sehen, doch sie widmet sich bereits meinen Wangenknochen.
»Diese neue Seuche gibt uns den Rest, sagen die Leute.«
Panik wallt in mir auf. Der Glasbehälter meines Vaters fühlt sich kalt auf meiner Haut an.
»Wann hat es angefangen, April? Wann sind die ersten Leute gestorben?«
»Vorgestern.«
Ich lasse den Atem entweichen, von dem mir nicht einmal bewusst war, dass ich ihn angehalten habe.
»Die Leute sagen, das ist das Ende. Diesmal können wir nichts dagegen tun. Manche gehen in die Kirche und beten, andere … überfallen Mädchen auf offener Straße. Und meinem Onkel ist sowieso völlig egal, was mit den Leuten passiert. Er beschützt niemanden mehr.« Sie tupft etwas Glitzer unter meine Brauenbögen.
Elliott will die Leute beschützen. Ihm sind sie nicht egal. Aber er konnte den Ausbruch dieser neuen Krankheit nicht vorhersehen und kann uns nicht vor ihr beschützen. Das ist der Grund, weshalb er meinen Vater am Leben lässt. Und weshalb er unbedingt seine Notizen haben will.
»Araby, ich habe Angst. Ich bin viel zu jung zum Sterben.«
Wie egoistisch von ihr. Tausende Menschen, die noch viel jünger waren als sie,
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